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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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haben. Ob das nun die Wahrheit war oder lediglich die Wahrheit in neuem Gewand, Dancys Art, mit dem Tod ihrer Mutter fertig zu werden – die Geschichte vor langer Zeit spielen und gut ausgehen zu lassen.
    Von hier aus kann er schon erkennen, dass der Pfad vollkommen überwuchert ist mit Dornsträuchern und Binsenschneiden, die ihm bis zu den Knien reichen. Möglicherweise wäre es klüger, hier jetzt nicht weiterzugehen. Vielleicht ist er schon zu weit gegangen, hat Chance und Sadie allein gelassen und ist vierhundert Kilometer weit gefahren, um Toomeys Spukgeschichten zu lauschen und in der Asche einer niedergebrannten Hütte herumzustochern. Er schaut auf den Griff der Pistole, der aus dem Hosenbund herausragt, fühlt sich dumm, einsam und ängstlich, alles zur selben Zeit.
    Plötzlich Flügelschlagen über ihm, dann panisches Geflatter von einem Dutzend oder Hunderten von Flügeln, und Deacon schaut erstaunt hinauf zu einem Schwarm Krähen, der aus den Bäumen auffliegt und über der Lichtung kreist. Ein Sturm aus krächzenden federschwarzen Körpern, der kurz die Sonne verdunkelt, eine wirbelnde lebende Wolke. Die Tiere bewegen sich vollkommen synchron, als folgten sie irgendeinem Signal, das zu subtil ist für tumbe Menschensinne.
    Psychopomp. Das Wort lag jahrelang vergessen in einer staubigen Ecke seines Gedächtnisses herum und fällt ihm jetzt beim Anblick dieser Vögel wieder ein. Im College hat er es gelesen, bevor er es aufgab, seine Visionen verstehen zu wollen. Geleit der Seelen nach dem Tode. Amseln gehören dazu, und Krähen und Raben ganz besonders. Der Vogelschatten über ihm löst sich wieder auf, zerstreut sich über den Bäumen.
    «Was hast du hier gesucht?», fragt sie, und er ist nicht einmal erstaunt, als er Dancy neben dem Schornstein stehen sieht, in den Farnen, die aus dem verkohlten und zerfallenen Skelett des ehemaligen Hüttenbodens wachsen.
    Ihr Gesicht ist schmutzig, aber die Blasen vom Sonnenbrand, die sie beim Tunnel noch hatte, sind verschwunden.
    «Die Wahrheit», sagt er, und sie lächelt, ein trauriges Lächeln, bedauerndes Lächeln, und tritt gegen die Farnwedel.
    «Glaubst du wirklich, damit würde alles enden? Wie in einem Buch oder einem Horrorfilm? Du findest die Wahrheit heraus und kannst uns alle dadurch retten?»
    «Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie alles ausgehen soll», sagt er. Die Krähen sind inzwischen schon weit fort, nur weit entfernter Schwingenschlag, der Schwarm verschwindet in der Sonne. «Aber das wäre schon schön, etwa wie in einer alten Scooby-Doo- Folge.» Nach ihrem Blick zu urteilen, hat sie noch nie von Scooby Doo gehört. Hier draußen gab es wohl kein Fernsehen und damit auch keine Cartoons samstagvormittags.
    «Einige Geschichten haben kein Ende», sagt sie. «In manchen gibt es nicht einmal Erklärungen.»
    «Was willst du mir damit sagen, Dancy?»
    «Ich habe ihre Gesichter gesehen, ihre wahren Gesichter. Die Löcher, die sie anstelle der Augen haben, sind unendlich, unendlicher als die Sterne, Deacon. Du kannst hineinstarren, bis die Zeit endet und wieder von vorn beginnt, und du bist noch immer keinen Deut schlauer als vorher.»
    «Wessen Gesichter? Wovon redest du?» Deacon macht einen Schritt auf sie zu, und sie geht einen zurück. In ihren roten Augen leuchtet es warnend, dann ist der Funke wieder erloschen, und Deacon bleibt, wo er ist.
    «Das Landvolk gab ihm in alter Zeit den Namen Grendel.»
    «Grendel? Dancy, weißt du, was du Chance und Sadie angetan hast?»
    «Ja», sagt sie und schaut weg, mustert ihre Füße irgendwo unten zwischen den Wedeln und dem Schutt. «Ich hätte mich von Sadie fernhalten müssen. Aber Chance hätten sie früher oder später sowieso gefunden. Ich habe lediglich dafür gesorgt, dass es früher passiert.»
    «Wegen dem, was ihre Großmutter herausgefunden hat? Meinst du das? Wegen des Notizbuchs und der Kiste mit den Steinen?»
    «Sie haben Angst vor uns, Deacon. Sie waren schon alt, als diese Steine hier nichts als Matsch und Schlamm waren, sie sind grauenvoll, trotzdem haben sie so viel Angst vor uns wie wir vor dem Tod. Manchmal kommen wir ihnen zu nahe…»
    «Sag mir nur, was ich tun soll, Dancy, sag es, und ich mach es, verdammte Scheiße.» Er glaubt nicht, dass sie ihm darauf antworten wird. Sie macht ein Gesicht wie ein Lehrer, der keine Lust mehr hat, einem Schüler etwas zu erklären, wenn der schon zu dumm ist, auch nur das Abc zu begreifen. Sie verschwendet ihre Zeit, doch dann streckt sie

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