Fossil
erst die Mühe, den Motor wieder anzuwerfen. Durch die Kiefern scheint eine riesige rote Sonne, und er wünscht sich jetzt eine Armbanduhr, oder wenigstens eine funktionierende Uhr im Wagen, weil er wirklich gern wüsste, wie viel Zeit ihm noch bis zur einsetzenden Dunkelheit bleibt. Nicht mehr lange, das ist klar, eine Stunde, vielleicht anderthalb, wenn er Glück hat. Danach wird draußen tiefschwarze Nacht herrschen.
Was wirst du denn deiner Meinung nach am Ende dieses Wegs finden, Deacon?
Wirst du nicht langsam durstig?
Bekommst du nicht langsam Angst?
Fragen, die Chance ihm im Traum gestellt hat, dem Traum, in dem er durch diese Wälder streifte und das Unmögliche durch Dancy Flammarions Augen gesehen hat. Dabei hat alles, was ihm widerfahren ist seit Birmingham, nur noch mehr Fragen aufgeworfen. Falls auch Antworten dabei waren, dann sicher nicht die, die er hier gesucht hat. Einfache Erklärungen, die alles Mysteriöse auflösen und die Welt wieder auf Kurs bringen. Stattdessen findet er nur Antworten, die so viel erhellen, wie sie verdunkeln, Antworten, die ihn sehnsüchtig an vergangene Unwissenheit zurückdenken lassen. «Steig schon aus», sagt er. «Steig endlich aus und sieh nach, was es eben zu sehen gibt.»
Bekommst du nicht langsam Angst?
Deacon betrachtet das Handschuhfach, das von breitem silbernem Klebeband am Aufklappen gehindert wird, weil der Verschluss abgebrochen ist. Vielleicht ist darin ja wenigstens eine Taschenlampe. Er zieht das Klebeband ab, und als Erstes kommen ihm zwei alte Hustler-Ausgaben entgegen, Sodas Pornovorrat. Ein dicker orangefarbener Gummi-Dinosaurier fällt aufs Cover der Hochglanzmagazine, als Deacon sie herauszieht. Der Dinosaurier verdeckt das lächelnde Gesicht einer Frau mit Brüsten von der Größe kleiner Wassermelonen. Keine Taschenlampe, aber ganz hinten im Fach liegt etwas, das in Wachstuch gewickelt ist, wahrscheinlich eine Packung Marihuana oder Pilze, das sieht Soda ähnlich. Deacon greift nach dem Päckchen und holt es heraus.
Es ist erstaunlich schwer, also wahrscheinlich doch kein Dope. Deacon wickelt das Wachstuch ab und starrt auf die Waffe in seinen Händen.
«Soda, du bescheuerter Mistkerl», sagt er und malt sich dabei aus, was wohl passiert wäre, wenn ein Cop ihn angehalten und das Ding gefunden hätte. Aber glücklicherweise ist das nicht passiert, und im Augenblick haben der matte Glanz der Pistole in der Spätnachmittagssonne und ihr Gewicht etwas Beruhigendes. Deacon versteht nicht das Geringste von Waffen. Eine angefasst hat er das letzte Mal als Kind, und das war ein Luftgewehr, aber sogar er wird es wohl hinkriegen, zu zielen und abzudrücken. An der rechten Seite des Revolvers findet er einen kleinen Hebel, genau über dem Griff; er drückt dagegen, und die Trommel springt heraus. Fünf Patronen stecken darin, eine der Kammern ist leer. Im Handschuhfach befindet sich keine weitere Munition, nur eine Karte von Arkansas und schimmelnde Tortillachips.
«Raus aus dem Auto», sagt er noch einmal und öffnet die Tür. «Beweg dich.» Er holt tief Luft, lässt den Zylinder zuklappen und verschließt sämtliche Türen des Chevy, bevor er aussteigt. Die Waffe steckt er sich dann in den Hosenbund, wobei er sich einfach dumm vorkommt, als würde er hier mitten im Nirgendwo Dirty Harry oder Charles Bronson spielen. Ob sich wohl schon mal jemand die Eier weggeschossen hat, weil die Pistole im Hosenbund steckte? Andernfalls könnte er der Erste werden. In den Bäumen sitzen Krähen und Drosseln, und dann das ununterbrochene Gesumme von Insekten und Gequake von Fröschen. Deacon wischt sich den Schweiß von der Stirn, schaut ein letztes Mal zum Auto und macht sich dann auf den Weg.
Was da am anderen Ende des Pfads auf der Lichtung steht, ist schon deutlich mehr als ein einfaches Déjà-vu. Es besteht kein Zweifel mehr, dass er schon einmal hier gestanden hat, und dabei ist es ganz egal, dass das erste Mal nicht echt war, sondern nur eine Vision, dies ist auf jeden Fall derselbe Platz. Den einzigen Unterschied machen die Ruinen der Hütte und die Brombeersträucher und Farne, die sich auf der Lichtung ausgebreitet haben. Ansonsten ist alles genau so. Jetzt geht die Sonne unter und brennt nicht vom Mittagshimmel herunter wie damals, aber selbst das ändert nichts. Rostige Autowracks, die auf Betonklötzen balancieren, nackte Räder, wo die Reifen sein sollten, und dann die verkohlten Überbleibsel der Hütte. Deacon geht an einem verwilderten
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