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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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gesehen bei seiner Arbeit für Hammond, und weil er so ein Glückspilz ist, ist er dann auch noch oft in Häuser oder Gassen oder verlassene Gegenden geraten, in denen es spukte, wie die Leute meinten. Aber das hier ist anders. Es ist schlimmer, auch wenn er nicht erklären kann, weshalb. Deacon taucht den Finger ins Wasser, durchstößt die Oberfläche, die durchsichtige Membran, die zwei Welten voneinander trennt, und das Wasser ist kalt wie Eis.
    Dann bohrt sich ihm der Schmerz durch den Kopf wie eine Klinge, Schüsse durch die Augen, und dann knallt sein Hinterkopf auf den Boden. Der bittere Gestank nach totem Fisch und schimmelnden Orangen. Deacon zieht den Finger zurück, zieht die Hand fort vom Wasser, als ob er nicht wüsste, dass das jetzt nichts mehr hilft. Er kneift die Augen zusammen, aber er sieht dabei trotzdem, so ist es jedes Mal, und so wird es auch bleiben. Direkt vor ihm ist noch immer der Teich, aber der hungrige Nachthimmel hat die Sonne mit Haut und Haar verschluckt, innerhalb einer einzigen Sekunde ist es Mitternacht geworden in Shrove Wood.
    Irgendwo ganz in der Nähe hört er eine Frau weinen, nah, aber es ist stockfinstere Nacht, nur das Wasser glänzt ein wenig und die dunklen Umrisse der Bäume, sehr viel mehr ist nicht auszumachen. Kein Mond, also stammt das einzige Licht vom hohen sternenbedeckten Himmel. Manchmal schreit sie nur, ohne Worte, nur diese Töne höchster Angst, die sich ihr entwinden, wild, nicht zu beruhigen, dann wieder ruft sie nach ihrer Mutter. Mama, bitte, Mama, mach, dass es aufhört, oder sie ruft Dancy, oder sie betet. Und da ist noch ein Stimme, atemloses Tiergrunzen und das Klatschen von Zweigen und Reißen an Weinranken, etwas Großes, Schweres, das sich durchs Unterholz schlägt und dabei alles zermalmt, was sich ihm in den Weg stellt.
    In Richtung der Hütte, da wo Deacon hergekommen ist, kann er noch zwei weitere Stimmen hören, die von Dancy und einer alten Frau, beide rufen voller Panik: «Julia, Julia, Kind, wo bist du nur?», und «Mama! Wir kommen!». Deacon öffnet die Augen, gegen die der Schmerz von hinten wie mit Daumen drückt, und es ist ein Wunder, dass sie nicht herausfallen und ihm über die Wangen rollen. Er starrt, starrt in die Dunkelheit, sucht in den Samtfalten der Nacht nach ihr.
    «Julia Flammarion», sagt er und greift nach dem Revolver in seiner Jeans. «Ich kann Sie nicht sehen, ich kann gar nichts sehen, verdammte Scheiße.» Dann ertönt ein lautes Platschen, irgendwo rechts neben ihm, und Kampfgeräusche vom Teich. Die Frau hat aufgehört zu schreien, man hört von ihr nichts mehr außer ersticktem Gurgeln, all die verzweifelten Laute einer Ertrinkenden.
    «Nein, Oma!», schreit Dancy. «Vielleicht triffst du sie aus Versehen.» Deacon dreht sich weg vom Wasser. Weiter hinten, wo der Pfad von der Hütte einen Knick macht und danach sanft zum Teich hin abfällt, ist ein hüpfendes gelbes Irrlicht aufgetaucht. Dancy hält eine Petroleumlampe, in deren Lichtschein ihr Gesicht und das der alten Frau zu erkennen sind. Die Alte zielt mit einer doppelläufigen Schrotflinte genau auf ihn.
    «Es ist zu spät, Oma, sie sind schon im See», sagt Dancy. «Es ist zu spät.» Deacon nimmt langsam die Hand vom Pistolengriff und wendet sich wieder um zum Teich. Jetzt endlich kann er sehen, wie sich etwas durchs Wasser bewegt, nichts, wofür er einen Namen kennen würde, nichts, wofür er je einen Namen erfinden wollte, straffe tiefschwarze Muskeln und Haut, die glänzen wie Öl, Augen, die leuchten wie blaugrünes Feuer, und die Frau in seinen Armen, die sich noch immer wehrt, während es sie mit nach unten zieht.
    Dann drückt die alte Frau ab, und der Schuss durchschneidet die Nachtluft, das Gewehr spuckt Feuer und Schwarzpulverdonner, speit eine tödliche Ladung Schrot, und Deacon bereitet sich innerlich auf den Treffer vor. Der Schuss kann ihn unmöglich verfehlen, aber da löst sich die Nacht auf, schmilzt rasant in öligen Streifen dahin, um den Blick auf die Dämmerung freizugeben, die während der ganzen Zeit auf der anderen Seite seiner Vision gewartet hat, das Ende dieses Tages statt jener Nacht, die über anderthalb Jahre zurückliegt.
    «Oh», flüstert er, als das letzte bisschen Finsternis endlich der Luft entflieht. «O mein Gott.» Deacon liegt auf den Knien und erbricht sich auf den Kalkstein. Weil sein Magen ohnehin fast leer war, folgt auf heiße Galle nichts mehr als trockenes Würgen, Krämpfe und Tränen in den Augen. Der

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