Fossil
einsperren, den Schlüssel wegwerfen und ihn für den Rest seines Lebens mit Psychopharmaka vollstopfen. Wie viel schlimmer konnte das schon sein, als in Schnapsläden zu arbeiten? Also erzählte er Hammond die ganze Gesichte geradeheraus und ohne sich lange aufzuhalten. Dabei war es ihm egal, ob es logisch klang oder nicht, ob der Detective ihn für verrückt hielt, solange er nur nicht für immer die Bilder der toten, verfallenden Körper mit sich herumtragen musste, ohne dass jemals jemand anders davon erfuhr, ohne dass er selbst herausfand, was mit ihnen geschehen war.
Vielleicht hatte Hammond ihm nicht einmal geglaubt, aber jemand durchsuchte den Keller des Glatzkopfs und fand die aufeinandergestapelten zehn Mädchenleichen in einer Ecke, fünf weitere lagen verscharrt im Garten hinterm Haus. Damit kamen Vermisstenfälle zum Abschluss, die zum Teil sechs Jahre und älter waren. Der Mörder starb, bevor die Woche zu Ende war, es hatte ihn zu schwer erwischt, um ihn am Leben zu erhalten, die Flammen hatten ihn zu sehr zernagt, so konzentrierten sich die Nachforschungen eine Weile auf Deacon, wochenlange Befragungen, auf die er keinerlei Antworten parat hatte, oder zumindest keine, die Hammond zu glauben bereit war. Nur gab es kaum Hinweise auf eine Verbindung zwischen Deacon und dem Mörder, außer dass der Scheißkerl eines Tages in ausgerechnet diesen Laden kam, um sich anzuzünden, und dann das, was Deacon anschließend herausgefunden hatte. Das reichte wohl kaum für einen Haftbefehl. Eines Nachts stand Hammond dann vor Deacons Wohnung mit einem schmutzigen Sweatshirt in der Hand, es war der Pullover eines Kindes mit einem bunten, niedlichen Aufdruck vorn. «Okay, Deacon», sagte er. «Ich soll dir ja den ganzen Mediumscheiß abkaufen und dich in Ruhe lassen. Richtig? Dann sag mir etwas über den Pullover hier.»
Das Kind wurde seit 1979 vermisst, ihr Name war Regina, Regina Sparks. Deacon setzte sich in seine schäbige Kochnische. Auf dem Tresen und dem Fußboden lagen genügend Bierdosen und leere Ginflaschen herum, dass er hier seinen eigenen Recyclinghof hätte aufmachen können. Zögerlich nahm er das Sweatshirt in die Hand. Eine Weile passierte gar nichts. Die Spur war verweht, aber nicht vollkommen verschwunden, dann wieder der Geruch, Zitrusfrucht und Fisch, und der Schmerz in seinem Kopf. Fünf Minuten später erklärte er Hammond, dass das Mädchen von seinem Stiefvater erstochen worden war, die Leiche hatte der Mann dann in einer gefluteten Mine in Cobb County versteckt.
«Da liegt sie noch immer», sagte Deacon. «Sehen Sie nach.» Und dort fanden sie sie, oder zumindest das, was das dunkle, moosgrüne Wasser von ihr übrig gelassen hatte. Die Geschichte reichte, um Vince Hammond zu bekehren.
Das war das erste Mal gewesen, oder das zweite, wenn man den Glatzkopf mitzählte. Danach kam Hammond zurück zu Deacon in die Wohnung, setzte sich und starrte ihn lange an, starrte bestimmt eine halbe Stunde und rauchte eine Mentholzigarette nach der anderen, als ob es vielleicht einen verborgenen Schlüssel gäbe, um das alles zu begreifen, irgendeine prosaische Erklärung, die er übersehen hatte, etwas, das keinen Glauben verlangte. Schließlich schüttelte er den Kopf und drückte den Zigarettenstummel aus. «Darüber unterhalten wir uns noch ein andermal.»
«Sie haben doch gesagt, Sie würden mich in Ruhe lassen, wenn…», begann Deacon, doch als er Hammonds Gesicht sah, den angespannten und entschlossenen Ausdruck darauf, war jedes weitere Wort überflüssig.
«Tut mir leid, Freundchen», sagte der Detective. «Ich sollte keine Versprechungen machen, die ich nicht halten kann.»
«Ich habe deinen Gesichtsausdruck gesehen», sagt Sadie und lässt jedes Wort wie einen Vorwurf klingen, wie ein Urteil, bevor das Wasser wieder über ihr zusammenschlägt, ruhiges teefarbenes Wasser, das mit allem, was im Sumpf lebte und starb, verunreinigt ist. Er schaut zu, schweigend, unsicher, während sie langsam auf den Grund des Teichs sinkt. Dort bleibt sie auf Sand und verrottenden kotfarbenen Blättern liegen und starrt zu ihm hinauf. Aus ihren Nasenlöchern und dem Mund dringt ein spitz zulaufender Strom von Luftblasen, das Leben sickert aus ihr heraus, der Sumpf dringt dafür in sie ein, eine unmögliche, urzeitliche Osmose. Als es vollbracht ist, ist ihr Skelett so glatt und sauber wie die weißen Schuppen der Fische, die die letzten faserigen Fleischstücke von ihrem Schädel gefressen haben.
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