Fossil
Eine fette Schildkröte mit scharlachroten Flecken hinter den Augen kuschelt sich in Sadies leeren Brustkorb, und Deacon tropft Schweiß von der Nase, wird auch zu einem Teil des Sumpfs.
Die Sonne steht sehr hell, sehr hoch dort oben am unendlichen Himmel, verbrennt die Erde von ihrem hohen einsamen Platz. Deacon bewegt sich durch flimmernde Luft, die nach Kiefern und Sand riecht, Schlangen und Magnolienblüten, kämpft sich durch die Luft wie durch dichtes Unterholz, Luft, die zu leben scheint, er hat einen weiten Weg zurückgelegt, als er den Pfad erreicht, der zur Hütte führt. Es sind Fußspuren darauf, etwas an der Zehenstellung stimmt nicht, die breite eingekerbte Hacke. Er versucht, nicht hinzusehen und auch das trockene, misstrauische Flüstern der Bäume nicht zu hören.
«Hast du nicht langsam Durst?», fragt Chance ihn. «Bekommst du keine Angst?» Dann gibt sie ihm eine Flasche mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Sie schmeckt nach Pfirsichen, brennt aber in seiner Kehle wie Whiskey oder Benzin, sein Bauch steht in Flammen, und Deacon gibt Chance die Flasche zurück, er ist noch immer nicht besonders durstig und hat auch noch immer keine sonderliche Angst.
«Was, meinst du wohl, werden wir am Ende des Pfads finden, Deacon?», fragt sie. Er schüttelt nur den Kopf und spuckt aus, um den süßen Geschmack von Chance’ Alkohol loszuwerden. Dabei folgt er den Spuren, als wüsste er nicht ganz genau, wohin sie führen, als würde er die Antwort auf ihre Frage nicht genau kennen, als ob er das alles hier nicht schon einmal gesehen hätte. Damals hielt er den abgetrennten Finger in der Hand, weil der ja auch aus Gummi und vollkommen bedeutungslos hätte sein können. «Hat es für dich irgendeinen Unterschied gemacht?», murmelt Chance.
«Hör auf, mir Fragen zu stellen», bellt er, laut wie ein Hund, und folgt weiter der hässlichen Fährte, den Pfad aus roter Erde entlang, als sich am verschwommenen Rand seines Gesichtsfelds etwas bewegt, der Schatten eines Schattens unterm Sommerhimmel. Er dreht sich nicht hin, weil er es gar nicht sehen will, weil es dann ohnehin verschwunden wäre.
«Wir wissen beide, was in jener Nacht wirklich passiert ist», sagt Chance. Es klingt bitter und verletzt. «Das ändert jetzt auch nichts mehr daran.»
Der Pfad endet, und Deacon beobachtet das Albinomädchen, oder er ist diesmal das Albinomädchen, vielleicht auch beides. Dancy Flammarion steht auf der Veranda vor der Hütte. Kaum mehr als ein Verschlag, denkt Deacon. Vier Wände aus Kiefernbrettern, ein Dach aus Wellblech, von der Sonne gebleichte Geweihe an der Wand, hundert oder tausend Hirschgeweihe, auf die Bretter genagelt, sodass die Hütte aussieht wie ein riesiges Stachelschwein, das seine Stacheln gegen Röhricht und Binsenschneiden sträubt, gegen was auch immer Dancy da aus dem Wald beobachtet. Was auch immer es ist, das sie dazu gebracht hat, mit einer geladenen alten Schrotflinte in der Hand in die pralle Mittagssonne zu blinzeln, und das ihr so viel Angst macht, dass sie es nicht wagt, wegzusehen.
«Glaubst du immer noch, ich würde dich nicht abknallen?», ruft sie den Bäumen zu, dorthin, wo die staubige Lichtung wieder zu undurchdringlichen Brombeerbüschen und Wald wird. Sie zielt mit dem Gewehr, als würde sie sich damit auskennen, tut, als hätte sie ihr ganzes Leben am Abzug einer Winchester verbracht, obwohl sie kaum weiß, wie man den verdammten Hahn dieses Dings spannt.
Die heiße Brise erstirbt, und die Bäume ragen still auf, warten auf das Ende dieser Geschichte, der Himmel hält den Atem an, obwohl doch schon längst alles vorbei ist. Das alles hier ist längst geschehen, denkt er, oder Dancy denkt für ihn, nichts, was er gleich sehen wird, kann noch irgendetwas ändern, nichts, was er Chance sagt, kann sie davon abbringen, ihn zu hassen.
«Komm wieder herein, Kind», ruft die alte Frau von der Tür der Hütte. Und genau danach sehnt sie sich, mehr will sie nicht, einfach nur umdrehen und wieder hineingehen, wo die Sonne sie nicht mehr findet, wo sie sich nicht mehr ansehen muss, wie das graue Ding am Rand des Sumpfs lächelt. Immer mehr stachligweiße Zähne in dem breiter werdenden Mund, weil es schmecken kann, wie viel Angst sie vor dem hat, was nun kommen muss.
«Nein, Oma», sagt sie. «Mach die Tür zu.» Deacon wendet den Kopf ab, schließt die Augen. Das Donnern des Gewehrs klingt, als bräche der Himmel auseinander und würde in blutigen Brocken herabfallen, um sie alle
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