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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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ohne dass er sich dafür auch noch groß hätte Mühe geben müssen. Das Gefühl ist ihm lange vertraut.
    «Nein, mache ich nicht.» Es klingt wie eine Lüge, das ist ihm klar, kaum dass er die Worte ausgesprochen hat, und er ist selbst nicht wirklich davon überzeugt. Dancy zuckt die Schultern und nickt.
    «Bisher musste ich niemals jemanden dazu bringen, mir zu glauben», sagt sie. «Das war bis jetzt nie notwendig. Es blieb immer alles geheim.»
    Deacon wirft einen weiteren verstohlenen Blick auf den Sekretär, der ihn in all seiner abgeschliffenen Walnussstille aus Schubladen und Türen hämisch anzulächeln scheint. Dann betrachtet er voller Widerwillen den Hustensaft auf dem Couchtisch.
    «Du erwartest ganz schön viel, ist dir das klar?», fragt er, nimmt den Hustensaft und versucht, mit zusammengekniffenen Augen das Etikett zu lesen, aber es ist zu dunkel, um die kleine Schrift zu entziffern.
    Dancy antwortet erst nicht, sondern starrt weiter aus dem Fenster, als würde sie auf etwas warten, als wüsste sie, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist. «Du hast doch gesehen, was in dem Glas war», sagt sie. «Ich habe es dir gezeigt.»
    «Du hast mir einen abgetrennten Finger gezeigt, Dancy. Mehr nicht. Wir beide sehen einfach nicht dasselbe, wenn wir in dein Gläschen schauen.»
    «Du siehst nur, was du sehen willst», flüstert sie vom Fenster. Ein Hauch von Ärger schwingt in ihrer Stimme mit, gerade genug, dass er es bemerkt, ob sie das nun beabsichtigt hat oder nicht.
    Ja, Ärger und noch etwas anderes, etwas wie gerechter Zorn, die Entrüstung eines alten Puritaners über Unglaube und Zweifel. Deacon knallt die Flasche mit dem Hustensirup wieder auf den Tisch.
    «Unsinn, du weißt doch selbst, dass es so nicht ist!» Jetzt blüht auch in seiner Stimme der Ärger auf, und er ist mit der Entrüstung an der Reihe. Hässliche schwarze Blüten treiben zwischen seinen Worten aus, und Deacon gibt sich keine Mühe, sie vor Dancy zu verbergen. «Du wärst heute gar nicht hier, wenn du das wirklich glauben würdest. Gott, ich wünschte, es wäre so. Ich gäbe gern mein linkes Ei dafür, dass du recht hättest.»
    «Dann hast du mehr als lediglich einen Finger im Glas gesehen und willst es einfach nicht zugeben. Weil du Angst davor hast.»
    «Ich habe gesehen, wie du einem toten Mann mit einem Küchenmesser den Finger abgeschnitten hast. Einem toten Mann, ja? Keinem Monster, einem Menschen.»
    «Das ist nicht das Einzige, was du gesehen hast, Deacon Silvey.» Sie klingt selbstgefällig, als wäre sie ihrer Sache sehr, sehr sicher, ihr Ärger verschwindet offenbar langsam, er hat seinen Zweck erfüllt, und Dancy verstaut ihn, bis sie ihn beim nächsten Mal wieder braucht. Du kleiner Freak, denkt er, er hat ihr Spiel zu spät durchschaut, erkennt die ausgelegte Spur erst, als er in der Falle sitzt. Du unheimliche kleine Psychotante. Am liebsten würde er rüber zum Fenster gehen und ihr eine knallen, sie schütteln, bis ihre roten Augen in den Höhlen hin und her rollen wie Murmeln.
    «Warum säufst du?», fragt Dancy und wendet sich endlich vom Fenster ab und sieht ihn an. «Weil du es nicht magst, was die Engel dir erzählen, was sie dir zeigen?»
    «Es gibt keine gottverdammten Engel!»
    « Wie du sie nennst, ist egal», sagt sie, so ruhig, so selbstbewusst. «Meine Mama meint, dass sie das meistens nicht kümmert.»
    Deacon steht auf, marschiert schnellen Schritts hinüber zum Sekretär und zieht schwungvoll die obere Schublade auf. Sie ist nicht verschlossen, aber soweit er das beurteilen kann, nur mit Papier vollgestopft. Er rammt sie zurück in den Tisch und beginnt, die anderen Schubladen zu durchsuchen und Schranktüren zu öffnen, aber er findet nichts außer Stapeln von Papier und mit einer Schnur zusammengebundenen Briefumschlägen, alte Strom- und Wasserrechnungen, als ob in diesem Haus niemals irgendjemand etwas wegwirft. Ein Mayonnaiseglas mit Kleingeld, eine ungeöffnete Packung mit Minen für einen Drehbleistift.
    «Meine Mama hat das auch versucht», sagt Dancy irgendwo hinter ihm, näher allerdings als die Bank am Fenster. «Mit fünfzehn ist sie nach Pensacola abgehauen und hat versucht, ununterbrochen zu saufen, bis die Engel endlich still wären und sie ihn Ruhe ließen.»
    Deacon ist jetzt bei der letzten Schreibtischtür angekommen. Er zieht fest daran, zu fest, denn gleich darauf hat er den Messinggriff in der Hand, die Tür ist verschlossen, er kann nichts tun, sondern muss wieder von vorn

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