Fossil
und Chance sieht, dass die Nagelhaut bereits blutet, frische Blutstropfen, die aussehen wie rote Beeren auf der weißen, weißen Haut.
«Nein, aber du, Chance, und du musst es mir erklären.»
«Und was ist mit dem Wasserwerkstunnel und Elise und dem ganzen Kram in den alten Zeitungsartikeln?»
«Irgendwie hängt das alles zusammen», sagt Dancy. «In meinem Traum gehört das alles zu einer ganzen Geschichte, aber…»
«Soll das heißen, dass du von Elise und dem Tunnel träumst? Und auch von meiner Großmutter?» Chance rutscht näher zu Dancy, beobachtet das Albinomädchen, schaut ihr in die Augen.
«Deshalb bin ich hier, Chance», sagt Dancy. «Diesmal kann ich nicht erkennen, wie die einzelnen Teile zusammenpassen. Das ist mir nie zuvor passiert.»
Chance reicht Tasse und Untertasse zurück an Dancy, schiebt die verdrehte Bettdecke von sich und steht auf. Sie bleibt neben dem Stuhl stehen, wo Dancy sitzt, und reibt sich das Kinn, die schmerzende Stelle genau darunter, wo sich bestimmt schon ein blauer Fleck gebildet hat.
«Ich soll dir eine Antwort auf deine Frage geben, damit du jemanden finden kannst, den du für ein Monster hältst», sagt sie und sieht Dancy nicht dabei an. Es ist auch so schon schwer genug, diese Dinge auszusprechen, ohne sie obendrein auch noch anschauen zu müssen. «Damit du diesen Jemand dann aufspüren und töten kannst. Wie den Mann, von dem der Finger stammt.»
«Chance, bitte sag mir einfach, was Elise und deine Großmutter umgebracht hat», bittet Dancy. Ihre Stimme hat sich irgendwie verändert, klingt plötzlich älter, ist zur wissenden müden Stimme einer alten Frau geworden, die aus Dancys Mund kommt. «Sag mir, was Deacon und du im Tunnel gesehen habt.»
«Sie haben Selbstmord begangen», antwortet Chance. Dancy stellt sich neben sie und nimmt ihre Hand, während Sadie unten wieder beginnt, Deacon anzuschreien. «Das ist alles, Dancy. Sie haben sich beide umgebracht.»
«Genau das sollst du glauben. Das will es doch nur», sagt Dancy.
Chance steht fast eine volle Minute lediglich da und starrt Dancy an, fast eine volle Minute, denn jetzt kann sie den Radiowecker auf dem Nachttisch erkennen. Ihr fällt keine weitere Entgegnung mehr ein, nicht das Geringste, worauf dieses Mädchen keine durchgedrehte Antwort hätte, was soll’s also? Dancy hält noch immer ihre Hand, hält sie so, wie sie Sadies Hand auf der Veranda gehalten hat, wie ein schüchternes Kind die Hand seiner Mutter hält.
«Na gut, lass uns runtergehen, ich will nicht, dass diese Zicke ihn noch hier im Haus ermordet.»
Kalte Cornflakes und mehr Kaffee. Sadie und Chance teilen sich die letzten abgestandenen Cheerios, Dancy isst Toppas direkt aus der Packung. Sie stippt die kleinen Vollkornkekschen in den Kaffee, sodass es ein schmatzendes Geräusch gibt, wenn sie hineinbeißt. Deacon geht es noch zu schlecht, um an den Küchentisch zu kommen. Er sitzt auf dem Fußboden vor dem Bad im Flur und trinkt die vierte oder fünfte Tasse Kaffee, weil es angenehmer ist, Kaffee zu erbrechen, als nur zu würgen, wie er sagt.
«Bist du ganz sicher, dass du keine Milch zu dem Zeug möchtest?», fragt Sadie Dancy nun zum dritten Mal, die schüttelt den Kopf, bevor ihre Hand wieder in der Toppas-Packung verschwindet.
Draußen im Garten hinterm Haus picken zwei Krähen auf etwas ein, dass Chance von ihrem Stuhl am Fenster nicht richtig erkennen kann. Eine der Krähen öffnet die Flügel weit, dann hüpft sie rückwärts, und Chance sieht oder glaubt kurz zu sehen, wie sich ein dunkler Schatten im Gras windet, eine dunkle Spirale wie eine kleine Schlange oder ein sehr großer Wurm, klebrigfeuchte Haut oder glitzernde Schuppen in der Farbe von Lakritze, und dann sind beide Krähen schon wieder über dem Ding.
«Wir müssen uns bei dir entschuldigen», sagt Sadie, zögerlich, unsicher, und Chance wendet den Blick vom Fenster ab. «Wegen Deacon und den beiden Flaschen Scotch und weil er sich hier bei dir so hat volllaufen lassen. Ich weiß, wie du darüber denkst…»
«Sadie, falls Deacon wirklich daran gelegen ist, sich zu entschuldigen, kann er mir das selbst sagen.» Chance steht vom Tisch auf, geht an Dancy vorbei zur Spüle und kippt die restliche Milch ihrer Cornflakes in den Ausguss, dann lässt sie lauwarmes Wasser laufen und spült damit die Schüssel aus.
«Ja, das stimmt schon. Aber diese ganze Geschichte macht ihn total fertig. Ich meine, Gott, so besoffen habe ich ihn wirklich schon lange nicht
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