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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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beginnen. Er betet, dass der Schlüssel hier irgendwo herumliegt und er ihn beim ersten Mal nur nicht gesehen hat, ihn in all dem Durcheinander übersehen hat bei seiner mäßig gründlichen Durchsuchung der Schubladen.
    «Natürlich hat es nicht funktioniert», erklärt Dancy Flammarion, und er sagt ihr, dass sie die Klappe halten soll, verdammt, falls sie es hört, ist es ihr jedenfalls egal. «Also hat sie versucht, sich im Golf von Mexiko zu ertränken. Ist immer weiter ins Wasser gelaufen, bis sie keinen Grund mehr unter den Füßen hatte, und ist dann weitergeschwommen.»
    Und da hat er ihn endlich, einen angelaufenen silbergrauen Schlüssel, er klebt mit Tesakrepp unter einer der Schubladen. Ohne zu haken, gleitet er ins Schloss der kleinen Tür im Sekretär, passt perfekt hinein, es macht hörbar klick beim Drehen, und das Schloss schnappt auf.
    «Sie hatte ‘ne Menge Wasser geschluckt, aber ein paar Fischer haben sie gefunden und wieder zurückgebracht. Sie sagt, sie hätte böse Dinge im Meer gesehen, als sie dabei war, zu ertrinken, böse Dinge, die froh waren, weil sie versuchte, sich umzubringen.»
    Die Tür schwingt auf. Dahinter befindet sich ein weiterer Stapel mit gelben Umschlägen, eine kleine Geldkassette und ganz hinten zwei noch ungeöffnete Flaschen Scotch.
    «Als die Fischer sie ins Boot ziehen wollten, haben all die bösen Dinge sich an ihrer Seele festgeklammert, damit sie nicht wegkam. Sie haben ihr versprochen, dass sie die Engel nie wieder hören muss, erzählten ihr, wie tief und ruhig die See sei.»
    Deacon sitzt auf dem Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und zerreißt die Papierbanderole an der einen Flasche Johnnie Walker Black, dann hebt er sie an die zitternden Lippen. Doch plötzlich steht Dancy über ihm, mustert ihn ausdruckslos, oder die Schatten der Nacht verbergen die Miene ihres Porzellangesichts.
    «Ich weiß, was du gesehen hast, als du den Finger in der Hand hattest, Deacon», sagt sie. «Und ich weiß auch, was es bedeutet, wenn man Angst hat, vor den Sachen, die man sieht. Ich habe fast immer Angst.» Damit geht sie zurück zur Bank unter dem Fenster und hält weiter Ausschau nach Engeln oder Monstern oder was zur Hölle auch immer hinter einem verrückten Albinomädchen her sein mag, das verrottende Finger in Babygläsern aufbewahrt. Deacon hebt die Flasche mit dem Scotch an die Lippen. Das bernsteinfarbene Feuer des Whiskys breitet sich in seinem Mund und seiner Kehle aus, die gnadenbringende Flüssigkeit brennt sich durch seine Gedärme und das Hirn, bis die warme, nach Whisky stinkende Dunkelheit sich um ihn schließt und die Nacht verdrängt, vergessen macht wie der letzte Blick einer ertrinkenden Frau auf den Himmel.

KAPITEL 7
    UROBOROS
     
     
     
    Die heiße, brennende Morgensonne auf Chance’ Gesicht scheint ihr direkt durch die Lider, und so müssen die wütenden, unruhigen Träume sie freigeben, schicken sie widerwillig noch ganz betäubt und blinzelnd in die erwachende Welt. Die Julisonne dringt durchs Fenster herein, zusammen mit dem zuckersanften Geruch nach Löwenzahn und weißem Berufkraut aus dem Garten unten. Das Zimmer ist erfüllt von dem Duft nach Sommerblumen und Kaffee. «Du bist ja wach», sagt das Mädchen. Bin ich das, überlegt Chance und versucht, sich an den Namen des seltsamen Mädchens zu erinnern. Bin ich wirklich wach?
    «Wie viel Uhr ist es?», fragt Chance und streckt sich, um die Uhr neben dem Bett zu erkennen. Aber sie ist noch zu benommen, um die kantigen digitalen Zahlen zu entziffern, rote Zahlen, die aussehen wie Achten und Nullen. Ach, Dancy, da fällt es ihr wieder ein, das Mädchen aus der Bibliothek, das Albinomädchen, und dann erinnert Chance sich auch an den Finger im Glas, die ausgeschnittenen Artikel und an noch Schlimmeres. Sie schließt die Augen wieder.
    «Zehn Uhr vierunddreißig», sagt das Albinomädchen.
    «Ich bin ohnmächtig geworden.» In ihrer schlaftrunkenen Stimme schwingt eine vage Andeutung von Überraschung oder Erstaunen mit, sie selbst hätte nie damit gerechnet, diese Worte einmal aus ihrem eigenen Mund zu hören. Ich bin ohnmächtig geworden.
    «Ich habe dir einen Kaffee gebracht, falls du einen magst.»
    «Das musst du doch nicht.» Chance denkt jetzt wieder an den Blumenduft statt an die letzte Nacht, es ist angenehmer, sich geistig damit zu beschäftigen, dass der Rasen bald wieder gemäht, Unkraut gejätet und eine Maulwurfsfalle aufgestellt werden muss, mit allem, nur nicht damit, dass

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