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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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Dancy Flammarion mehr ist als ein Traum.
    «Ach, das macht mir nichts», sagt Dancy. «Ich musste sowieso welchen für Deacon kochen, der ist krank.» Chance reibt sich die Augen und setzt sich im Bett auf. Sie trägt noch immer dieselben Sachen wie gestern Nacht, wie ihr jetzt auffällt, dieselbe Jeans und dasselbe T-Shirt, dieselben Socken, und sie stopft sich das Kissen zwischen ihren Rücken und den Kopfteil ihres Betts. Dancy reicht ihr die Kaffeetasse – die Tasse und den dazu passenden Unterteller, das gute Porzellan der Großmutter –, das sind nicht die Tassen, die Chance normalerweise beim Frühstück benutzt, aber das konnte Dancy ja nicht wissen. Die Tasse ist mit Blattgold verziert und genau wie die Untertasse mit Schlüsselblumen bemalt, gelben Schlüsselblumen.
    «Krank? Was hat er denn?»
    Aber Dancy sieht nur aus dem Fenster, als hätte sie bereits zu viel gesagt. Chance nimmt einen Schluck vom heißen dampfenden Kaffee. «Ah, du meinst, Deacon hat einen Kater.» Dancy nickt einmal.
    «Er ist Alkoholiker», sagt Chance und nimmt noch einen Schluck vom starken Kaffee. Er ist bitter und so heiß, dass sie aufpassen muss, damit sie sich nicht den Gaumen oder die Kehle verbrennt. Normalerweise trinkt sie Kaffee mit viel Milch oder fettarmer Kaffeesahne, aber auch das konnte Dancy nicht wissen. «Deacon hat einen Kater, wie andere Leute morgens Marmeladentoast essen. Es ist seine persönliche Art, den Tag zu beginnen.»
    «Ich glaube, es ist schlimmer», sagt Dancy stirnrunzelnd. «Außerdem schreit Sadie ihn ununterbrochen an.»
    «Gut, die beiden verdienen einander eben. Verdammt, meine Zunge tut weh.» Chance steckt die Zunge heraus und befühlt vorsichtig deren Spitze mit dem Zeigefinger.
    «Deacon meinte, du hättest da heftig draufgebissen, als du gefallen bist», sagt Dancy. Ja, daran kann Chance sich noch erinnern. Der Blutgeschmack im Mund, wie Salzwasser und alte Pennys, und dann Deke, der ihr das Gesicht mit einem nassen Waschlappen abwischte, Deke, der ihr das Gesicht wusch und sie dann, noch immer angezogen, ins Bett legte.
    Chance zieht die Zunge wieder rein und mustert ihren Finger, als erwarte sie noch mehr Blut, aber mehr als ein Tropfen kaffeefarbener Spucke ist nicht zu sehen. Chance trinkt ihren schwarzen Kaffee und versucht, an nichts anderes zu denken als den hoffnungsgeschwängerten Duft des Morgens. Dancy betrachtet das Fenster, wie sich die elfenbeinweißen Gardinen bewegen in der leichten Brise, die blattgrünen Äste der Eichen und Hickorybäume im Garten. Wenn das vielleicht für immer so bleiben würde, denkt Chance, oder wenigstens doch noch eine Zeitlang, es ist wirklich nicht sonderlich unangenehm, ja, nicht einmal so furchtbar eigenartig, solange sie keinen Gedanken daran verschwendet, was es eigentlich genau bedeutet – ein zerzaustes Albinomädchen, das ihr Kaffee bringt, und Deacon, der sich unten gerade erbricht, Deacon wieder in ihrem Haus.
    Doch dann ist die Goldrand-Schlüsselblumen-Tasse leer, und Chance starrt auf den Kaffeesatz unten am Boden. Sie seufzt, wahrscheinlich lauter, als beabsichtigt, denn Dancy dreht sich zu ihr um. «Tut deine Zunge noch immer weh?», fragt sie.
    Chance zuckt die Schultern. «Schon, aber der Kaffee hat etwas geholfen.» Dancy lächelt.
    «Wir müssen miteinander reden», stellt Chance fest, und Dancy nickt wieder, die roten Augen wie das verborgene Innere einer Muschel, wie das Blütenherz einer Rose. Der Anblick verunsichert Chance nicht, sondern macht ihr Angst. «Gut, dann sind wir uns einig.»
    «Ich wollte dich nicht verärgern gestern», sagt Dancy sehr sanft, ihre Entschuldigung ist fast ein Flüstern, ein bedauerndes, nervöses Flüstern. «Ich weiß, ich hätte es nicht aussprechen dürfen… das Wort, aber ich musste irgendetwas sagen, damit du mir glaubst.»
    «Ich habe nicht gesagt, dass ich dir glaube, Dancy. Tatsächlich weiß ich nicht einmal, was genau ich dir glauben soll.» Sofort schaut Dancy wieder weg, runzelt wieder die Stirn und kaut verzweifelt an einem dicken Fingernagel.
    «Du glaubst nicht einmal an Gott», sagt Dancy. «Wo soll ich da anfangen?»
    Chance atmet tief ein, füllt ihre Lungen mit all der Helligkeit, die durchs Fenster hereinscheint, saugt sich voll mit der Alltagsluft der Normalität, wappnet sich mit Wissen und Bildung, damit die Realität ihr Mut einflößt.
    «Weißt du überhaupt, was ein Dicranurus ist?», fragt Chance.
    Dancy schüttelt langsam den Kopf, hört auf, Nägel zu kauen,

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