Fossil
hoch. Dancy gleitet die Sonnenbrille aus der Hand, fällt klappernd auf den Küchenfußboden, und dann wirft sich der Vogel wieder gegen die Scheibe. Diesmal erkennt Chance eine dunkle Schliere aus Blut und Vogelkot am Fenster, ein paar Federn kleben an dem Dreck. Die Krähe hockt auf der Fensterbank und pickt einmal schwach mit dem Schnabel gegen die Scheibe. «Nicht hinsehen», sagt Dancy bestürzt, knurrt es mit ihrer unmöglichen Altfrauenstimme, gleich darauf legt die Krähe ihre gebrochenen Flügel an und fällt leblos kopfüber ins Gebüsch unter dem Fenster.
«O Gott, o Gott», flüstert Sadie, eine Hand auf der Brust, als ob sie einen Herzanfall hätte wie jemand, den man halb zu Tode erschreckt hat und der sich jetzt langsam wieder erholt. Dann nimmt sie die noch immer unangezündete Zigarette aus dem Mund und legt sie auf den Tisch. «Was zum Teufel war das denn?»
«Eine Krähe», sagt Chance. «Nur eine Krähe.» Doch sie hört selbst, wie wenig überzeugt das klingt, hört ihre adrenalingeschwängerte Verwirrung. «Ich glaube, die habe ich vor ein paar Minuten noch im Garten gesehen.»
«Gott», wiederholt Sadie und macht einen vorsichtigen langsamen Schritt auf das blutverschmierte Fenster zu. «Was zur Hölle wollte die nur?»
«Nicht», knurrt Dancy. «Noch nicht.» Die alte Frau knurrt mit Dancys Kehle, dann bringt sie einen plötzlichen erstickten Laut hervor, den Mund zu weit aufgerissen, ergreift mit beiden Händen verzweifelt die Tischkante, und ihre Albinokaninchenaugen rollen in den Höhlen. «Ich kenne dich», sagt sie. «Ich habe dich immer gekannt.» Worte aus Kies und Glas, zwischen ihren Zähnen glatt geschliffen, dann hat sie Schaum vorm Mund wie ein tollwütiger Hund oder das Meer an der Küste.
«Lieber Himmel, Chance, ich glaube, sie erstickt», sagt Sadie, will nach Dancy greifen, doch sie bewegt sich dabei zu schnell, zu gedankenlos und fegt die Sarghandtasche vom Tisch. Deren gesamter Inhalt verteilt sich auf dem Fußboden: Ein Augapfel aus Gummi prallt an einem Durcheinander von Schminkutensilien, Kleingeld, dem gesprungenen rosafarbenen Spiegel und Papierschnipseln ab und springt auf Chance zu, die noch immer auf das vogelverschmierte Fenster starrt. Nicht dass sie nicht merken würde, was am Küchentisch vorgeht, oder dass sie Dancy nicht hören könnte, aber etwas an dieser Krähe kommt ihr so bekannt vor, so real…
Nein, ich darf dir nichts sagen.
Du musst mir nichts sagen, Elise. Ich habe dich nicht darum gebeten, mir irgendetwas zu sagen.
Du wüsstest ja gar nicht, dass du mich bitten könntest …
«Sieh es nicht an», faucht Dancy Flammarion. Es ist dieses wütende Fauchen einer alten Frau oder eines wahnsinnigen Tieres, das Chance den Blick vom Fenster abwenden lässt. Sadie steht jetzt hinter Dancys Stuhl, beide Arme fest um die knochigen Schultern des Mädchens geschlungen, die Daumen zusammengepresst, die Daumen in die weiche Stelle gepresst, wo die Rippen auf das Brustbein treffen – der Heimlich-Druckpunkt unter dem Brustkasten des Mädchens. Wie nennt man ihn doch gleich?, überlegt Chance. Diesen winzigen Knochen da. Ein kleines Frage-und-Antwort-Spiel wie in der Schule, um sie zurückzuholen in die Realität.
Der Xiphoid, beantwortet sie sich die Frage selbst. Den kleinen Knochen nennt man den Xiphoid oder Schwertfortsatz.
«Nicht, Sadie», sagt sie und greift in die Spüle. «Sie erstickt gar nicht, dann könnte sie nicht sprechen.» Chance entdeckt, was sie gesucht hat, der Löffel hatte sich hinter der Müslischale versteckt.
«Was zum Teufel ist denn dann mit ihr los?», schimpft Sadie, selbst ebenfalls fast hysterisch, ihre wolfsblauen Augen schauen hell aus den beiden Zwillingshämatomen aus verlaufenem Eyeliner.
«Ich glaube, sie hat einen Anfall», sagt Chance, schiebt Sadie fort, ohne grob sein zu wollen, obwohl Sadie es bestimmt so auffasst, dann schüttelt es Dancy am ganzen Körper wie aufs Stichwort. Ein heftiger Tremor, als ob ihr die Muskeln von den Knochen springen wollten, ihr Kopf schnellt zurück und schlägt hart gegen die hölzerne Kopfstütze des Stuhls.
«Versuch, sie festzuhalten», sagt Chance. «Sonst wird sie sich wehtun und ihre Zunge verschlucken.»
Diesmal diskutiert Sadie nicht lange, sondern hält Dancys blasses Gesicht mit beiden Händen fest. Ihre Zähne klappern laut wie Kastagnetten gegen den silbernen Löffelgriff, ihre Augenlider flattern und tanzen, Tränen laufen ihr über die Wangen, aus einem Mundwinkel
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