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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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Hand passiert, Dancy?»
    Sie schaut hoch. Ein paar Meter entfernt steht ein großer dünner Mann, steht da mitten in der Sonne und ist bis zu den Knöcheln seiner Frotteekniestrümpfe im Asphalt versunken. Aber entweder merkt er das gar nicht, oder es ist ihm egal.
    «Sie kenne ich», sagt sie, und das tut sie. Das ist der Mann mit den spitzen Ohren aus dem Bus, der Mann, in dessen breitem, breitem Mund sich die gelben Zähne drängeln, und er lächelt sie an, zeigt all seine Zähne auf einmal.
    «Du bist aber ganz schön weit weg von Memphis, oder?», fragt der Mann. «Ziemlich weiter Weg bis Graceland.»
    Der Mann schaut hinauf in den Himmel, kneift die Augen zusammen gegen den Tag und wischt sich mit einem rotweiß karierten Taschentuch die Stirn.
    «Hast du dich verirrt, Dancy?», fragt er mit seiner Stimme, die sich anhört wie eine Mischung aus Honig und dem Rasseln einer Klapperschlange. «Brauchst du jemanden, der dir den Weg zeigt? Ich könnte dir helfen, ich kenne alle Wege…»
    «Ich brauche keine Hilfe von Ihnen», sagt sie, ihre Kehle ist zu trocken, als dass es mutig klingen könnte, cool klingen könnte, ihr bleibt gerade genug Spucke, um überhaupt Wörter zu formen. Sie schluckt einen großen Mundvoll heißer Parkplatzluft. «Also können Sie direkt wieder dahin zurückkriechen, wo Sie hergekommen sind, und mich in Ruhe lassen.»
    Der große Mann hört auf zu lächeln und faltet sein schweißbeflecktes Taschentuch ordentlich zusammen, bevor er es in die Seitentasche seiner grauen Hose steckt. Der Asphalt reicht ihm jetzt bis zu den Knien, zieht ihn tiefer in den blasenwerfenden schwarzen Teersirup. Er streckt die Hand nach Dancy aus, und einen Augenblick lang überlegt sie, wie wunderbar und dunkel es unter der Erde sein muss, wie kalt dort, wo die Sonne nie scheint.
    «Du bist nicht geschaffen für diese Welt», sagt der Mann. «Aber ich könnte dir Wege zeigen, Nachtpfade, die sich bis in alle Ewigkeit zwischen milchweißen Bäumen dahinschlängeln, wo nichts jemals brennt, und die Sonne nur eine Schauergeschichte ist, mit der man die blassen Kinder erschreckt, wenn sie nicht schlafen wollen.»
    Dancy schaut auf ihren Seesack, in dem sich Dinge befinden, mit denen sie den großen Mann mit den Zähnen in die Flucht schlagen kann, die ihn möglicherweise heulend und sich windend zu all den anderen zurückjagen würden. Aber der Leinensack liegt so weit weg, und die zweiglangen Finger des Mannes sind so nah. Sie muss nur seine Hand ergreifen, sich von diesen skelettknochigen Fingern davontragen lassen in die Dunkelheit und die tröstliche Kälte.
    «Braves Mädchen», sagt der Mann, und sein Atem umfließt sie wie Quellwasser und Nacht. «Braves, braves Mädchen. Weißt du, Dancy, die ganze Sache hat doch gar nichts mit dir zu tun. Du solltest nicht so leiden müssen. Deine Mutter hätte dir die Wahrheit sagen sollen, die ganze Wahrheit, und das alles wäre vollkommen unnötig gewesen.» Und da berühren Dancys Fingerspitzen den Rand von etwas Großem und Scharfem und Unbehauenem, etwas, das aus Lügen und dem zusammengenähten Fleisch von Lügen gemacht ist, etwas, das immer nur hungrig war. Ein alles verschlingender Hunger, der bis zum Ende aller Zeit existieren wird, bis zum Ende der Welt. Dieses unendliche Hungern spürt sie in der eisigen Berührung, und sie zieht ihre verletzte, mit dem Geschirrhandtuch verbundene Hand weg, macht eine Faust und drückt die kurzen Nägel durch den Stoff und ins Fleisch ihrer Handflächen, drückt fest zu, bis sie weiß, dass es wieder blutet, bis der Schmerz das Lächeln des Mannes wegwischt, seine Stimme aus ihrem Gehör tilgt. Dann kann sie wieder das Summen der müllgeschwängerten Fliegen hören, fühlt die gleichgültige Julihitze auf der Haut, nur die Sonne verzehrt sie noch, und nichts deutet darauf hin, dass der Mann jemals wirklich da gewesen ist. Geblieben ist nur der erstickende Gestank nach Teer, Abfall und Autoabgasen. Dancy nimmt ihren Seesack, der jetzt doppelt so schwer zu sein scheint, und tritt hinter der pinkfarbenen Mülltonne hervor. Sie richtet den Blick fest auf den Wassersprenger, den winzigen Schauer, der vor und zurück über den saftigen grünen Rasen vor einem großen, grauweißen Gebäude aus Stein und Zuversicht wandert, eine Kirche vielleicht. Sie stellt sich vor, wie das Wasser ihre von der Sonne verbrannte Haut benetzt, dann verlässt sie den Schatten und betritt den Parkplatz.
     
     
    «Also, mein erster Tipp wäre, dass es

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