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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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falls du das meinst», sagt Alice, und Chance reicht ihr den purpurfarbenen Stein. Es folgt ein Augenblick des Schweigens, in dem Alice die wirbeligen Trilobiten durch ihre Brillengläser studiert, dann grinst sie, jedes Anzeichen von Verärgerung ist verflogen. «Du und deine Kiste entwickelt euch zu einer echten Zaubershow, Mädchen, weißt du das? ‹Hey Rocky, sieh mal, wie ich ein Kaninchen aus meinem Hut hole.›» Dann schaut Alice auf ihre Armbanduhr und gibt Chance den Stein zurück.
    «Verdammt, ich sollte vor zehn Minuten in der Campbell Hall sein.»
    «Das sind doch Dicranurus?», fragt Chance, während Alice einen Stapel Papiere zusammensucht und ihre Packung Winston vom Tisch nimmt. «Ich weiß, dass der Stein deutlich älter ist als irgendwelche sonstigen Funde der Art, trotzdem sind es welche, glaube ich.»
    «Ja, da dürftest du richtig liegen», sagt Alice, die jetzt schnell spricht. Noch ein Blick auf die Uhr, noch ein Stirnrunzeln. «Wir haben hier noch irgendwo Zeug von der Haragan-Bergkette in Oklahoma. Bestimmt findest du es im Computer, es gibt nicht so viele Dicranurus, soweit ich weiß. Oh, und schau dir auch Ceratonurus an, wenn du schon dabei bist. Nur um sicherzugehen.»
    «Okay», sagt Chance. «Und danke.» Alice marschiert schnell an ihr vorbei zur offenen Tür, wobei sie eine Wolke aus Zigarettenqualm und Hektik hinter sich herzieht. In der Tür hält sie noch einmal an, eingerahmt vom schwächer werdenden Tageslicht.
    «Heißt das also, dass du wieder unter den Lebenden weilst?», fragt sie.
    Chance zuckt die Schultern. «Abwarten. Ein Schritt nach dem anderen.»
    «Ruf mich heute Abend an», sagt Alice, lächelt wieder, dann ist sie fort, und Chance steht allein da, betrachtet die Trilobiten und denkt über Dancy Flammarion und Zaubertricks nach.
     
     
    In Dancys Traum ist es wieder der Tag, bevor etwas aus den Wäldern gekrochen kam und ihre Mutter fortgeschleppt hat. Dancy sitzt auf dem Bett und tut, als würde sie lesen, sitzt auf dem abgenutzten Quilt, den ihre Mutter gemacht hat, bevor sie selbst geboren wurde, eine verrückte Patchworkdecke aus roten, braunen und butterblumengelben Stoffresten. Ihre Großmutter beobachtet noch immer den Eingang der Hütte. Sie sitzt mit einer doppelläufigen Winchester am Tisch und wendet den Blick nicht von der Tür oder dem großen kaputten Fenster daneben ab. Auf dem Tisch befinden sich eine Schachtel Gewehrmunition, die Bibel, ein Glas Wasser, der Blutstein Onyx und ein silberner Rosenkranz, den Dancys Großvater aus Deutschland mitgebracht hat. Von Zeit zu Zeit nimmt ihre Großmutter den Rosenkranz zur Hand und befingert seine rotgesprenkelten, grünen Perlen, rot und grün, wie Blutstropfen auf Moos, dann flüstert sie ihre Gebete. Manchmal stimmt Dancy flüsternd ein, Wort für Wort, Atemzug für Atemzug. Manchmal starrt sie aber auch nur auf die Seiten ihres Buchs von Henry Wadsworth Longfellow; eines der Bücher ihrer Mutter, aus der Zeit, als die nach Pensacola abgehauen war, die Seiten verfärben sich wie Herbstblätter.
    Es gibt Dinge, von denen ich nicht sprechen darf, sie kennt die Gedichte auswendig, all diese Wörter, kann sie mit geschlossenen Augen hersagen. Sie besitzt nur sechs Bücher, abgesehen von der Bibel ihrer Großmutter. So starrt sie auf die gelbbrüchigen Seiten, lauscht dabei jedoch den Zikaden in den Bäumen, jedem Geräusch des sengend heißen Tages, das von draußen kommt. Falls ein Zweig knackt oder auch nur ein Grashalm sich biegt, wird ihr das nicht entgehen. Der Tag ist ein einziges Lautgewirr: brummende, mal lauter, mal leiser werdende Insektenstimmen, ein Alligator, der aus Richtung Wampee Creek bellt. Dancy schaut wieder hinunter auf das Buch mit den Gedichten.
    Es gibt Träume, die nie sterben werden…
    Dann ein Flügelflattern, wie damals, als sie einen Schwarm Geier überrascht hat, die den Kadaver eines Wildschweins fraßen. Sie waren alle gleichzeitig aufgeflogen, als sie kam, ein lautes, unerwartetes Rauschen von Aasfedern in der Luft, doch jetzt schien das gleiche Geräusch in der engen Kiefernholzhütte gefangen. Ihre Großmutter hat nichts gehört, hat sich nicht bewegt, aber der Engel steht auf der anderen Seite des Zimmers und schaut Dancy aus seinen flammenden Brandaugen an. «Du hast sie sterben lassen», sagt Dancy. «Du hast sie alle beide sterben lassen.» Denn jetzt erinnert sie sich wieder, dass sie in ein paar Minuten aufsehen wird, am Tisch vorbei durch das zerbrochene Fenster

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