Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
allzu lange aufzuhalten, denn das waren die Jahre des Klassenkampfs, die Miliz konnte jederzeit vor der Tür stehn. Ich flüsterte meinem Jungen ins Ohr. »Siyuan, Mama muss gehen.«
Er nickte und krächzte: »Ahah.«
Ich sagte: »Ich sehe in ein paar Tagen wieder nach dir.«
Wieder krächzte er: »Ahah.«
Ich verstand, er war zu lange allein gewesen, er war es nicht mehr gewohnt zu sprechen.
LIAO YIWU:
Wenn das noch ein paar Jahre so weitergegangen wäre, hätte er die menschliche Sprache ganz vergessen.
ZHANG MEIZHI:
Ich stand auf und ging aus dem Weizenfeld den Berg hinunter und nach Hause. Ich hatte das Gefühl, er schaut mir die ganze Zeit nach, und drehte mich um und hob die Hand. Aber er hatte sich schon abgewandt und war davongelaufen, im Nu hatte ich ihn aus dem Auge verloren. Ach, er dachte wohl, das wäre ein Zeichen gewesen, dass jemand kommt!
LIAO YIWU:
Als Kind habe ich die Revolutionsoper »Das Mädchen mit den weißen Haaren« gesehen, in dem die Bodenreform in den befreiten Gebieten gezeigt wird. Die Handlung ist, dass der tyrannische Grundbesitzer Huang Shiren den armen Bauern Yang Bailao in den Tod treibt, dessen Tochter Yang Xi’er vergewaltigt und ihr keinen anderen Ausweg lässt, als sich wie eine Wilde in den Bergen zu verstecken. Die Zeit vergeht, und der Hass und die Unterernährung führen dazu, dass Xi’er ein Mädchen mit weißen Haaren zur Welt bringt.
ZHANG MEIZHI:
Und was hat das mit meinem Sohn zu tun?
LIAO YIWU:
Ist er nicht sozusagen auch ein »Mädchen mit den weißen Haaren«, nur aus dem Untergrund? Naja, ganz stimmt das nicht. Kurz, diese Oper hat bei Generationen von Chinesen ihre Wirkung hinterlassen. Huang Shiren wurde zum bekanntesten Grundbesitzer überhaupt und He Jingzhi, der Verfasser, stieg zum stellvertretenden Vorsitzenden des Propagandaministeriums der Kommunistischen Partei auf – die wirkliche Geschichte wurde ständig derart auf den Kopf gestellt, niemand hätte sich vorstellen können, dass durch die Bodenreform ein Grundbesitzer dazu gezwungen war, ein »Junge mit weißen Haaren« zu werden.
ZHANG MEIZHI:
»Das Mädchen mit den weißen Haaren« habe ich gesehen, sie hat am Ende die Kommunistische Partei herbeigesehnt, sie wurde befreit. Aber mein Junge und meine Familie wurden nie befreit! Im Herbst 1954 versteckte er sich schon zweieinhalb Jahre in den Bergen, und ihm hing das Haar bis auf die Hüften. Yang Sihong, mein Drittältester, war damals erst dreizehn, er stand seinem Bruder besonders nah, deshalb ist er oft hinaufgestiegen, um ihn zu besuchen. Am Anfang hielten sie sich nur einen Augenblick beieinander auf, bevor sie sich trennten, das machte auch nichts. Aber nach und nach fiel ihnen der Abschied immer schwerer. Ich war von dem Klassenkampf ganz verängstigt und hinderte ihn, zu oft da hinaufzugehen, wenn das herausgekommen wäre, das hätte man nicht mehr in Ordnung bringen können. Aber dieser Kindskopf tat so, als würde er mir recht geben, aber innerlich hatte er sich längst anders entschieden. In dieser Phase wurden auf dem Land gerade die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften niederen Typs eingerichtet, die Produktion gewann die Oberhand, die Kontrolle der Vier Üblen Elemente wurde ein bisschen gelockert, und bei den Versammlungen zum konzentrierten Lernen wurden die körperlichen Strafen sehr viel leichter. Die Saiten meines Herzens waren nicht mehr so angespannt, ich dachte sogar, dass Yang Siyan nun schon so lange »spurlos« verschwunden war, dass er für Dorf und Gemeinde vielleicht überhaupt nicht mehr existierte.
Yang Sihong war aus den Kinderschuhen herausgewachsen, am Ende blieb er einmal ganze zwei Monate in den Bergen! Tagsüber hockte er mit seinem Bruder in dessen Erdloch, am Abend kamen sie heraus und zogen los. Ich machte mir Sorgen, und ich war verärgert, also schickte ich die anderen Kleinen zu ihm und ermahnte ihn heimzukommen. Er hörte nicht, also machte ich mich selbst auf, ich erklärte ihm, was er damit anrichten könnte, aber ich konnte mir den Mund fusselig reden, die beiden nickten nur mit den Köpfen, rührten sich aber nicht von der Stelle. Ich wurde weich und dachte daran, dass die beiden ohne die Liebe eines Vaters aufgewachsen waren, und wenn sie nun einmal partout zusammen durch dick und dünn gehen wollten, durfte ich nicht so herzlos sein …
Außerdem sagte Yang Siyuan: »Mama, lass ihn mir noch ein paar Tage da! Ich bin doch schon so ein lebender Toter, was ich früher
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