Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Monate und drei Tage. Aber gleich nachdem mein linker Augapfel herausgenommen worden war, wurde ich vorzeitig entlassen. In der Tasche hatte ich nichts als ein paar Dutzend Kuai für die Heimreise, die ich von der Regierung bekommen hatte.
Auf einem Auge blind kehrte ich wieder auf die Straße zurück. Wenn ich an meine blinden Eltern denke, so ist das wahrhaft Vorbestimmung.
LIAO YIWU:
Hast du dich mit deinem Schicksal abgefunden?
QUEYUE:
Ich war damals gerade mal etwas über zwanzig, hätte ich mich damit abgefunden, wäre ich nicht so weit gekommen, wie ich heute bin.
LIAO YIWU:
Ich weiß, dass du heute Avantgarde-Musik machst.
QUEYUE:
Was ich mache, ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich zu mir selbst zurückgefunden habe. In der Vergangenheit habe ich mich geschämt, anderen gegenüber von meinen blinden Eltern zu sprechen, ich habe geglaubt, so etwas gehöre nicht an die Öffentlichkeit. Durch die Zeit im Knast und andere Mühlen wurde mir klar, das Schicksal früherer und heutiger Künstler ist dasselbe. Dass ich Avantgarde-Musik mache, liegt deshalb einfach nur daran, dass ich ein paar westliche Elemente aufgeschnappt habe, aber meine Wurzeln sind doch auf der Straße. Ich mache oft meinen Kassettenrekorder an, laufe durch die Straßen und nehme die Geräusche unserer Zeit auf. Und im staubigen, endlosen Lärm gebe ich meinen eigenen dünnen Gesang dazu.
LIAO YIWU:
Die Aufnahme, die du mir geschickt hast, habe ich mir angehört, die ist auch so.
QUEYUE:
Zur Zeit meines Vater wurde Kunst nur aufgeführt, mein Interesse aber ist, Musik selbst aufzunehmen und das dann aufzuführen. Wir sind alle blind, wir wissen alle nicht, wo es langgeht. Seit ich das erkannt habe, läuft die Zeit für mich rückwärts, ich bin wieder der vier Jahre alte, ausgezehrte und magere kleine Junge, der in der Nase bohrt und dabei eine Kette von Blinden zur öffentlichen Totenfeierstätte führt.
Ich bin auch einmal mit Zou Zhongxin, dem Sichuan-Großmeister auf der Jinqian-Klapper, aufgetreten, einem Jugendidol meines Vaters. Das dürfte im Sommer 2000 gewesen sein, auf einer Veranstaltung der populären Quyi-Gesangs- und Vortragskunst in der Nähe des Tempels zur Großen Barmherzigkeit in Chengdu. Zou Zhongxin war fast achtzig, er konnte auf beiden Augen nicht mehr sehen, aber auf dem Höhepunkt der Geschichte »Wu Song erschlägt den Tiger« schlug er die Klapper, dass sie rotierte wie ein Windrad, und aus seinen leeren Augen schossen auf einmal zwei Strahlen voller Energie! Ich war völlig perplex, denn Vater hatte sich seinerzeit oft, ein Radio in beiden Händen haltend, die neuen Fortsetzungsprogramme von Zou Zhongxin angehört, auch er konnte die heroische, aber auch tödliche Energie dieser Augen sehen, mit den Ohren.
LIAO YIWU:
Kennst du die »Punk God Rocker«, die sich ins Ausland abgesetzt haben?
QUEYUE:
Ja, die kenne ich, ihr Leadsänger Bo Ao hat durchaus Talent, aber auch ihr Lebensweg unterscheidet sich nicht wirklich von dem der Blinden, alle ziehen durch die Straßen der Welt. Die Dichter können noch so laut »Revolution« schreien, niemand nimmt das ernst. Ich für meinen Teil führe das unbedeutende Leben einer Ameise. Obwohl ich kaum über dreißig bin, fühle ich mich wie ein alter Mann, der keine Kraft mehr hat, gegen irgendetwas Widerstand zu leisten.
Die Frau des Schlafwandlers
Ich hatte immer so meine Zweifel, ob es wirklich Schlafwandler gibt, bis ich eines Tages einen Aufsatz unseres Dichters Niu Han, »Von meinen Gedichten und mir selbst«, las, in dem es heißt:
»Infolge eines Schlages kam es in meinem Kopf zu einer Blutstauung, das Blutgerinsel drückt auf einen Nerv, ich wurde zum Schlafwandler. Damit habe ich jetzt seit einem halben Jahrhundert zu tun. Das Schlafwandeln bestimmt schon fast mein ganzes Leben. Ich schlafwandele nachts genauso wie am Tag, ich bin ein Träumer, der nicht mehr aufwachen kann.«
Obwohl ich mit Niu Han trotz des großen Altersunterschieds recht gut befreundet bin, traute ich mich wegen dieser riesigen Last, die auf seinen ein Meter neunzig liegt, nie, ihn direkt auf seine Krankheit anzusprechen. Am 1 . November 1996 lernte ich dann durch einen Freund die große Revolutionärin Li Ying kennen. Als ich zufällig erfuhr, dass ihr Mann, der Romanschriftsteller Guan Dong, der bereits in seinen Siebzigern war, Ähnliches durchgemacht hatte wie Niu Han, wollte ich unbedingt mit ihr darüber sprechen.
Die Sonne vor dem Fenster war schon recht kühl,
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