Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
sie anhand meines Verhaltens, meiner Äußerungen ablesen konnte, kritzelte sie auf grau kariertes Papier. Immer wenn sie schrieb, versuchte ich nachzuvollziehen, was ich gerade gesagt oder getan hatte, das für sie von Relevanz sein könnte.
Wenn ich mit geschlossenen Augen das Alphabet rückwärts aufsagen musste, bekam ich Atemnot. Ich fürchtete, einen Buchstaben zu verwechseln, ich fürchtete, Frau Bernegger könnte anhand ihrer Akte herausfinden, dass ich gar nicht legasthenisch war, sondern einfach nur geistig zurückgeblieben.
»Welche Farbe hat denn jetzt das G?«, fragte sie mich.
Was sollte ich darauf antworten? Was war, wenn das G in meiner Vorstellung gar keine Farbe hatte?
»Gelb«, sagte ich. Vielleicht auch einfach, weil Gelb mit G geschrieben wird.
»Gelb?« Frau Bernegger sah von ihren Notizen auf. Ich fühlte es: Sie zog die Zwangsjacke fester zu.
»Ja«, bestätige ich.
»Aber in deinem gekneteten Alphabet hast du blaue Knete verwendet. Schau noch mal nach, ist das G wirklich gelb?«
Ich schloss die Augen und sah nach. »Stimmt«, sagte ich, »es ist blau.«
Sie lächelte und notierte dies.
Selbst wenn ich handgreiflich geworden wäre, hätte sie ihren Kugelschreiber zur Hand genommen und Notizen über mein Verhalten gemacht. Also blieb ich sitzen und starrte auf die Tischplatte.
Ich konnte sehr schlecht lügen, aber was ich gut konnte, war, nicht ehrlich zu sein. Es gab so viele Dinge, die ich »am liebsten sagen würde«. Aber ich brachte sie nicht über die Lippen. Ich musste vierzehn Jahre alt werden, um sie zu Papier zu bringen. Und ich brauchte Frau Bernegger, denn sie löste eine bald unbändige Wut in mir aus, die mich eines Montagnachmittages dazu brachte, meiner Mutter zu sagen, dass ich nicht mehr dorthin wolle.
Ohne Hilfe könne ich die Schule nicht schaffen. Ob ich eine Alternative hätte? Nein, die hatte ich nicht, aber ich beharrte darauf: Ich wollte nicht mehr zu Frau Bernegger. Und so kam es zu einem Gespräch mit meiner Mutter, Frau Bernegger und mir. Die Sitzung begann wieder mal mit der Frage der Therapeutin: »Und, wie geht es dir heute?« Den weiteren Verlauf der Unterhaltung kann ich nur noch anhand meiner ersten schriftlichen Notiz zurückverfolgen. Diese paar Zeilen kritzelte ich an jenem Abend nach dem Gespräch fast unleserlich vor Wut auf ein Blatt Papier. Das erste Mal hatte ich das Verlangen verspürt, etwas aufzuschreiben, meinen Ärger einfach niederzuschreiben.
Frau Bernegger hat mich gefragt wie es mir ginge, am liebsten hätte ich verschissen gesagt und ihr eins gebrettert. Ich kann mein Leben selbst bestimmen, ich mache was ich will und nicht was sie will. Es kam noch dazu, dass sie mich fragte womit ich den Montag ausfüllen würde. Weißt du, es geht sie einen Scheiß an! Was würde sie denn machen, wenn sie so ein Shit-Training machen müsste? Sie würde sicher nicht vor Freude an die Decke springen. Es tut mir leid wenn ich nun mal keinen Bock habe. Herrgott! Man ich hasse Menschen die meinen sie können mich mit diesem Scheiß heilen, der einzige aber auch einzige der mich heilen kann bin ich selbst und das Reiten.
Wieso kapiert die nicht, dass sie mich mal kann. Ich will jemanden der mich versteht, jemand der mich versteht, hast du verstanden, versteht! So eine wie diese Bernegger versteht mich nicht.
Einmal niedergeschrieben, faltete ich das Papier zusammen und steckte es dem großen Bären, der in meinem Zimmer saß, ins Halstuch. Ich hatte Angst, jemand könnte diese fürchterlichen Worte finden. Gleichzeitig verspürte ich eine befreiende Erleichterung. Endlich hütete ich ein Geheimnis, hatte jemanden gefunden, dem ich all meine zornigen Gedanken eröffnen konnte. Als das Halstuch nicht mehr reichte, legte ich einen Ordner an.
Nach einem zweiten Gespräch mit meiner Mutter, das mit einer Drohung an mich endete: »Aber wehe, du packst die Schule nicht!«, musste ich nicht mehr an der verhassten Therapeutentür klingeln. Ich hatte einen Befreiungsschlag vorgenommen, ohne zu wissen, was Freiheit ist.
13
Es muss in dieser Zeit gewesen sein, Spätsommer, mein Geburtstag vielleicht, als mich meine Tante fragte, ob ich in den Herbstferien nicht Lust hätte, mit ihnen nach Argentinien zu reisen. Damals gab es in meinem Bewusstsein keinen Begriff von Freiheit, und es gab nichts, was sich so anfühlte wie Zufriedenheit. Alles, was ich bisher kannte, war Enge, war Pflicht, war der Makel. Ich nahm es hin, da ich nichts anderes kannte.
Doch
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