Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
dürfen.
Zwischendurch, wenn es zu kameradschaftlich wurde, leistete er sich einen Spruch, der mich innerlich ausrasten ließ, und nach zwei Tagen riss er mich wieder herum und bat um den nächsten Band der Comicserie XIII, die ich gerade las. Obwohl ich nach wie vor katastrophale Mathematikklausuren schrieb, nichts von Chemie oder Physik verstand und in Geometrie keine Symmetrien oder Parallelen zeichnen konnte, blieb er geduldig und nachsichtig.
Ich klammerte mich an ihn wie ein Schwimmer auf dem offenen Meer an seinen Rettungsring. Nicht ein Mal in den zwei Schuljahren bei ihm sagte er mir, ich könne etwas nicht schaffen. Er gab mir immer das Gefühl, die Dinge gut zu machen, und er hatte Verständnis für das, was ich weniger gut konnte.
Herr Etter schaute mit uns in die Sterne und organisierte Zeltlager im Grünen. Wir arbeiteten eine Projektwoche lang im Forst, wo ich mit der Kettensäge Bäume umlegte und alleine um das Gelände der Unterkunft wanderte, während andere Schüler heimlich rauchten. Er führte Gespräche mit mir und gab mir das Gefühl, ein super Mädchen zu sein.
Er erzählte von einer Wanderung über die Pyrenäen und brachte uns mit seinen Geschichten aus dem Schweizer Militär zum Lachen. Er war verheiratet mit einer Frau, die er liebte, Vater von einer Tochter, das zweite Kind war unterwegs. Er vermittelte uns: Das wird schon klappen. Man kann erwachsen sein und trotzdem cool bleiben.
17
Es war Frühjahr 1999. Der Abschluss der zehnten Klasse war zum Greifen nahe.
Über mehrere Monate hatte ich mit meinem Vater an der amerikanischen Ostküste nach Schulen gesucht, deren Philosophie mir entsprechen könnte. Es war dies nicht der erste Versuch, die Schule, das Land, den Schwerpunkt meiner Ausbildung zu wechseln. Der Gedanke, mich auf eine Sportschule in Bern zu schicken, war verworfen worden, der Versuch, mich im vorangegangenen Herbst in England auf ein Internat einzuschulen, scheiterte in letzter Minute. Die Idee, mich auf eine Waldorfschule zu schicken, löste Unbehagen bei meinen Eltern aus. So ging das seit Jahren. Immer hatte ich für eine kurze Zeit die Hoffnung, und dann kam die Enttäuschung, als klarwurde, dass der Wechsel aus irgendeinem Grund nicht möglich war. Man wollte mir alle Türen in der Schweiz offen lassen – ich aber wollte sie alle zuknallen und nie mehr zurückkehren. Amerika war für mich das vertrauteste Land in größtmöglicher Entfernung. Durch meine Cowboyphantasien war ich dem Land ja längst verfallen. Ich dachte, dass ich mit einem Weggang nach Amerika der Freiheit ein großes Stück näher kommen könnte. Das Schulsystem schien einem Problemfall, wie ich einer war, viele Möglichkeiten zu bieten. Das Bildungssystem in diesem Land schien nachsichtiger zu sein, was mir wieder neuen Mut gab. Ich konnte meine Schwerpunkte selbst wählen, intensiv Sport treiben, und mit Englisch hatte ich durch regelmäßige Urlaube in den USA keine Probleme.
Ich machte also mit meinem Vater eine zehntägige Tour, auf der wir uns die acht in Frage kommenden Highschools ansahen. Ich wählte schließlich vier Schulen davon aus, bei denen ich mich bewarb. Zwei der vier Schulen waren Mädchenschulen – mir wurde berichtet, wie viele Politikerinnen und erfolgreiche Frauen auf Mädchenschulen gewesen waren, und da dachte ich mir, meinem Leben mit dem Wechsel auf eine solche Schule vielleicht einen grundlegenden Richtungswechsel geben zu können. Die Mädchen auf diesen Schulen wirkten zielorientiert, gebildet und hübsch anzusehen.
Die eine Direktorin fand es entzückend, dass ich mich für Literatur interessierte, und empfahl mir, Der Baron auf den Bäumen von Italo Calvino zu lesen. Mein Vater und ich fuhren gleich danach in den Buchladen und bestellten die Lektüre. Ich war angetan von dem Gefühl, auf dieser Schule solch herausragende Bücher studieren zu können.
Die zweite Schule legte großen Wert auf Schuluniform und den Kirchgang. Jeden Sonntag mussten die Schüler in den protestantischen Gottesdienst. Ich erinnere nur die prächtigen Schulgebäude, die uralten Bäume auf dem Gelände und die Schüler, die wie Mitarbeiter eines Mega-Kreuzfahrtschiffs auftraten. Alle in geputzten Lederschuhen, blauen Hemden, hellen Hosen und gekämmten Haaren.
Die dritte Highschool war ein Vorzeigemodell für Bildung im bevorstehenden neuen Jahrtausend. Die ganze Schule war mit Computern ausgestattet, man kommunizierte per E-Mail und surfte im Internet durch die Semester –
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