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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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aus Spanplatten hängen Fotografien von Jim als kleinem Jungen mit Gewehr und Weste, vor ihm ein erlegter Hirsch. Auf dem Ofen stehen Kaffeetassen, daneben ist ein Klapptisch mit einer Gas-Kochstelle aufgestellt. Der warme Ofen trocknet meine Hosen, und ich nehme dankbar eine Tasse Kaffee entgegen. Der Postbote löffelt Müsli mit fingerdicken Bananenstücken, die er so aus dem Brei herausfischt, dass sie auf dem Weg zum Mund auf der Löffelspitze balancieren. Er bietet uns etwas davon an, doch ich mag nicht essen.
    »Und? Habt ihr was gesehen?«, fragt Jims Vater, ein kräftiger, großer Mann mit dichtem weißem Haar.
    »Nichts. Nur Spuren und Kot, aber kein Tier«, sagt Jim.
    »Nicht bei diesem Wetter«, bestätigt der Postbote.
    »Ja«, seufzt Jim. »Das war zu befürchten.«
    Wir sitzen, trinken und reden.
    Sie fragen, was ich in Vermont mache. Und, natürlich, wie lange ich bleibe. Ich antworte, dass ich das nicht sagen kann. Jims Vater ist gar nicht überrascht. »Ich kenne das«, nickt er. »Ich war mal auf Hawaii – und dort wäre ich geblieben bis zum heutigen Tag.« Ich schmunzle. Jeder hat seine Orte, von denen er nicht wieder zurückkehren will, denke ich.
    Jim zuckt mit den Schultern. Er kennt dieses Gefühl nicht, er weiß genau, warum er hier ist und dass er für immer hierbleiben wird. Ich schaue wieder zu den Fotografien von Jim als Kind, während die anderen weiterreden. Ich frage mich, was das Idol dieses Jungen gewesen sein mag. Dieser Junge, der Stinktiere am Schwanz durch die Gegend getragen hat, im Schatten einer Trauerweide am Ufer eines Flusses seine Angel ins Wasser gehalten hat, Fische ausnehmen konnte, sich aus einer spitz zugeschnittenen Holzplanke ein Gewehr gebaut hat, barfuß ging und im Sommer immer dreckige Knie hatte.
    Ich sehe diese Fotos und habe das Gefühl, hier eines von Jims Geheimnissen gelüftet zu haben. Unauffällig schaue ich zu ihm hin, zu diesem Mann mit dem stoischen Gesicht und der starken Brust. Wie leicht das Leben sein kann, wenn es einfach bleibt. There is beauty in everything.
    Ich höre den Regen, die Stimmen der Männer, rieche den Kaffee und danke dem Elch im Stillen, dessen Spuren mich hierher verschlagen haben. Die Scheu, die ich Jim gegenüber in den letzten Tagen empfunden habe, löst sich langsam auf. Ich fühle mich ihm verbunden, obwohl ich weiß, dass diese Verbundenheit niemals tiefer gehen kann, als er es erlaubt. Aber es ist okay, denke ich mir – es ist so simpel.
    Die weiße Plastikuhr, die an der Wand über der Kochstelle hängt, zeigt fast zwölf Uhr Mittag. Jim und ich verlassen die Hütte. Draußen scheint es mir ungemütlicher als noch am Morgen. Jim fragt, ob ich was essen gehen wolle. »Ich brauche jetzt Fleisch«, meint er. Ich sage zu und merke, dass auch ich hungrig geworden bin.
    »Wir sollten bei besserem Wetter wieder auf Spurensuche gehen.«
    Ich nicke.
    Wir gehen auf einem Schotterweg zurück zum Auto. Der Rückweg scheint mir sehr viel kürzer als das stundenlange Irren durch den Nebel.
    Wir essen sehr amerikanisch zu Mittag. Burger und Chicken Wings, dazu frittierte Zwiebelringe.
    »Jim, kannst du dir vorstellen, woanders zu leben?«, frage ich. »Irgendwo? Woanders als in Vermont?«
    »No.« Er spricht das Wort aus, als habe er meine Frage nicht verstanden. »Ich war letztes Jahr zum ersten Mal in New York. So viele Autisten auf einem Haufen habe ich noch nie gesehen. Die rannten alle mit Scheuklappen durch die Gegend. Sie stöpseln sich die Ohren zu oder telefonieren, sie gucken nicht rechts, nicht links. Es scheint, als könne man nur als Autist mit der Masse verschmelzen. Ich mochte es nicht.«
    »Wer weiß, die New Yorker hatten vielleicht Angst vor dir – die dachten, du schneidest ihnen die Gurgel durch.« Wir müssen beide lachen. Jims Augen funkeln. Ich schüttle den Kopf und sage: »Wenn sich so viele Menschen auf engem Raum drängen, fühle ich mich auch einsam. Hier, wo ich alleine bin und ganz viel Platz für mich habe, fühle ich mich geborgen. Für manche ist das ein Widerspruch.«
    »Gott sei Dank, sonst würden ja alle in Vermont leben wollen.«
    Ich schmunzle. »Das ist ein schrecklicher Gedanke. Aber nehmen wir an, du müsstest«, hake ich nach, »hättest du den Mut, alle Zelte abzubrechen und an einen fremden Ort zu gehen?«
    Jim rückt etwas auf dem Stuhl hin und her. »I am off to the promised land«, zitiert er die vielen, vielen Auswanderer, welche die Krankheiten und tödlichen Fieber, die

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