Fraeulein Jensen und die Liebe
Button »Englisch« drückt.
Mürrisch starre ich auf den Fernseher. Na ja, wird schon nicht so schlimm werden. Obwohl alles jetzt auf Englisch ist, bleiben es ja dieselben Schauspieler. Und dieselbe Handlung. Streng genommen könnte man wahrscheinlich sogar sagen, dass es derselbe Film ist. Außerdem kann ich ja jeden Dialog mitsprechen, ich bin also gar nicht darauf angewiesen, dass ich etwas verstehe.
Die Szene läuft weiter. Ich verstehe tatsächlich nicht viel von dem, was Hugh Grant sagt. Aber etwas ganz anderes irritiert mich. Wie spricht er denn? Ist das überhaupt Hugh Grant? Ich kneife die Augen zusammen und betrachte ungläubig dieses Wesen im Fernseher, das dreist vorgibt, Hugh Grant zu sein. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass auch Pia beunruhigt auf ihrem Sessel hin und her rutscht.
Skeptisch starren wir auf die Mattscheibe. Doch nach ein paar Minuten halte ich es nicht mehr aus.
»Wer ist das???«
»Mmh, ich bin auch etwas sprachlos. Der klingt auf Englisch irgendwie anders.«
Pia klickt sich innerhalb Sekunden wieder ins Sprachmenü durch und drückt auf »Deutsch«. Endlich wieder richtig. Noch ein paar Mal wechseln wir in derselben Szene von Englisch zu Deutsch.
Nach einer ausführlichen Sprachanalyse steht fest: Unser Hugh Grant, der Hugh Grant, den wir jahrelang liebten und verehrten, hat eine weiche Stimme. Eine Stimme so zart wie Seidenpapier. Manchmal klingt sie unsicher und manchmal sogar verletzbar. Sie ist sensibel, feinfühlig, fragil und gleichzeitig männlich. Es ist eine liebenswürdige Stimme. Eine Stimme, die sich den Gehörgängen anschmiegt und die feinen Härchen am ganzen Körper zum Beben bringt. Es ist eine Stimme, bei der man Gänsehaut bekommt und über die man lachen und weinen kann. Von der man in den Arm genommen werden und die man selbst beschützen möchte. Unser Hugh Grant hat eine Stimme, von der man geliebt werden will.
Der Hugh Grant auf Englisch dagegen hat eine ... nun, eine gewöhnliche Stimme. Eine stinknormale Stimme.
Pia und ich sehen uns fassungslos an. Zwei Erkenntnisse auf einmal.
1. Hugh Grant schmückt sich mit fremden Federn.
2. Wir haben jahrelang für den Falschen geschwärmt. Und wahrscheinlich geht es nicht nur uns so, sondern allen Frauen in Deutschland. Ein halbes Volk wird nach Strich und Faden belogen und betrogen, sobald es sich einen Film mit Hugh Grant ansieht. Man wird verarscht, komplett verarscht. Sorry für diese harten Worte. Aber grausame Wahrheiten müssen nun einmal beim Namen genannt werden.
Klar, der echte Hugh Grant hat sicher kein Problem damit. Der profitiert ja nur davon. Und in den meisten Fällen fliegt die Lüge ja auch nicht auf, denn für gewöhnlich kommt man nicht auf die Idee, sich den Film auf Englisch anzusehen, wenn es ihn auch synchronisiert gibt. Wir wären diesem Betrug ja auch nicht auf die Schliche gekommen, wenn ich vor fünfzehn Jahren in der Schule besser aufgepasst hätte und Pia mich heute nicht gezwungen hätte, Englisch zu lernen.
Gott, wir haben gerade einen großen Schwindel aufgedeckt. Mir zittern die Knie.
Und was machen wir jetzt mit unserem Wissen? Einige Leute würden es sicher gezielt einsetzen und damit Hugh Grant oder die Produktionsfirma oder gleich alle beide erpressen und ein Vermögen machen. Was haben die bloß für ein Glück, dass dieses brisante Material in unsere Hände gelangt ist. Unsere verantwortungsbewussten Hände. Wir würden natürlich nie Schindluder damit treiben. Das löst aber immer noch nicht die Frage, was wir nun damit anstellen.
Die Stimme. Natürlich! Manchmal stehe ich aber auch wirklich auf dem Schlauch. Da regen wir uns die ganze Zeit darüber auf, dass der echte Hugh Grant gar nicht wie unser Hugh Grant spricht, und vergessen darüber ganz die Tatsache, dass irgendjemand da draußen ja im Besitz dieser wundervollen Stimme ist.
»Pia«, sage ich leise. »Guckst du mal bitte im Abspann, von wem Hugh Grant synchronisiert wird?«
Ich sehe angespannt auf den Boden und beobachte aus den Augenwinkeln, wie Pia sich durchs DVD-Menü klickt.
»Da, ich hab’s«, sagt sie. Himmel, was bin ich aufgeregt. »Patrick Winczewski.«
»Patrick Winczewski??«
Ich muss unwillkürlich an Julia Maczewski denken. Sie kam in der achten Klasse auf unsere Schule und hatte ein eher trauriges Schicksal, glaube ich.
Unsere Jungs gaben ihr schon nach kürzester Zeit den Spitznamen »Matschi«, den sie wahrscheinlich für immer behalten wird. In der Abizeitung war sie die Einzige,
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