Fraeulein Jensen und die Liebe
Soll ich mich vielleicht doch noch zum Liebespaar setzen? Die sehen jedenfalls was. Oh Gott, ich bin so gemein. Aber ich hatte mir das alles doch so schön überlegt.
Das Handy klingelt. Pia, jetzt nicht, denke ich. Es gibt nichts zu erzählen. Wirklich gar nichts. Wir haben uns jetzt genau fünf Stunden nicht gesehen, da muss man doch nicht schon wieder telefonieren. (Zugegeben, manchmal rufe ich sie alle zehn Minuten an, aber dann gibt es auch elementare Dinge zu besprechen wie »Was ziehe ich an?« oder »Ich habe kein Backpapier mehr, meinst du, ich kann Alufolie verwenden?«.)
Ich krame genervt das Handy aus der Tasche, starre auf das Display und sehe einen blinkenden Schriftzug.
Hugh Grant ruft an
Hugh Grant ruft an
Hugh Grant ruft an
Aaaaaaaaaaaaaahhhhhh.
Oh Gott. Er ruft an.
»Es klingelt«, sagt der blinde Mann neben mir.
»Das höre ich«, sage ich etwas unbeherrscht. Ich bin schließlich nicht taub.
Oh Gott. ER ruft an. Mich, Hannah Jensen. Die schönste Stimme der Welt wird gleich mit mir sprechen. Nur mit mir.
Es klingelt noch immer. Inzwischen sieht auch das Liebespaar in meine Richtung.
Ich muss handeln. Und nehme ab.
»Hallo?« Oh Gott. Meine Stimme hat sich schrill angehört. Ich räuspere mich und sage eine Oktave tiefer: »Wer ist da?«
Patrick Winczewski sagt »Hier ist Patrick Winczewski« und ich unterdrücke einen kurzen Schrei.
Er fragt, wann es mir morgen passen würde.
»Mir egal«, fiepe ich. »Ich habe immer Zeit.«
Er fragt, wo wir uns am besten treffen könnten.
»Mir egal. Mir ist alles recht.«
Er schlägt das Madison am Hafen vor.
»Gerne, ich komme, auf jeden Fall, ich freu mich.«
Wir legen auf.
Ich lege zitternd das Handy auf den Tisch und atme tief durch.
Übermorgen im Madison. Das überleb ich nicht.
Die Kellnerin kommt.
»Was darf ich Ihnen bringen?«
»Nichts. Ich muss schon wieder los«, sage ich und höre plötzlich, wie aus meinem Mund kommt: »Hugh Grant hat nämlich gerade angerufen.«
Ich verlasse das Café Paris und stehe wie paralysiert auf der Straße. Patrick Winczewski klingt in Wirklichkeit noch viel sympathischer als in der Rolle Hugh Grant. Grundgütiger. Ich hätte nicht gedacht, dass mich eine Stimme mal so durcheinanderbringen würde. Eine einzige Stimme. Ob ich Patrick Winczewski bitte hinter einer Schattenwand interviewen könnte? Ich will mich ausschließlich auf die Stimme konzentrieren. Mit geschlossenen Augen würde ich dahintersitzen, und nachdem wir uns eine Weile anregend unterhalten haben, würde der Kellner (den könnte man ja vorher instruieren) die Schattenwand herunterreißen. Gegen ein bisschen Trinkgeld würde er sicher auch noch »Das ist Ihr Herzblatt« sagen. Ich schlucke. Romantischer kann eine Beziehung ja wohl kaum beginnen. Es gibt nur ein kleines Problemchen, das dieses Happy End auf den letzten Metern noch zunichtemachen könnte: meine Stimme. Nun, Problemchen ist vielleicht etwas untertrieben. Wahrscheinlich müsste man eher von einem ausgewachsenen Problemberg sprechen. Das würde der Wahrheit wohl am nächsten kommen.
Tja, wie beschreibe ich meine Stimme am besten? Ich habe eine hohe Stimme. Um genau zu sein: eine sehr hohe Stimme. Es heißt ja, dass Mädchen in der Pubertät genau wie Jungen in den Stimmbruch kommen und mit den Jahren immer reifer klingen. Diese Phase habe ich auf jeden Fall übersprungen. Ich klinge eigentlich immer noch wie ein 14-jähriges Mädchen. Wenn ich ein Junge wäre, hätte ich hervorragend Kastrat werden können: ein Mann, der wie eine Frau klingt und darum Frauenlieder singt. Aber was macht man mit einer Frau, die wie ein Kind klingt? Nun, ich könnte Kinderlieder singen.
Am Telefon werde ich daher grundsätzlich jünger geschätzt, als ich eigentlich bin. Als ich neulich einen Beratungstermin bei der Bank vereinbaren wollte, fragte mich die Bankangestellte in einem fürsorglichen Ton: »Sollte ich das nicht lieber mit deiner Mutter klären?«
Was könnte man noch zu meiner Stimme sagen? Ach ja, nur noch eine Kleinigkeit. Wenn ich aufgeregt bin, schwingt sie sich in ungeahnte Höhen und fängt an zu zittern. Als ich in der Schule ein Referat über »Der politische Liberalismus im Deutschen Reich unter Bismarck« halten musste (ich hatte keine Ahnung!), geriet meine Stimme plötzlich derart ins Stocken, dass ich dachte, mir würde ein Schicksal wie das von Dirk Asmussen aus der Parallelklasse blühen. Der stotterte seit der Einschulung. Aber nein, dieser Kelch
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