Fraeulein Jensen und die Liebe
ist zum Glück an mir vorübergegangen. Ob ich damit überzeugen kann, dass ich zumindest nicht stottere?
Oh Gott. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich: Meine Stimme könnte mir nicht im Weg stehen, sondern sie wird es tun. Garantiert. Ich versuche, einen klaren Kopf zu bewahren. Welche Möglichkeiten habe ich übermorgen im Interview mit Patrick Winczewski?
1. Ich könnte das ganze Gespräch über schweigen. Ich wäre dann sozusagen die geheimnisvolle Schöne, die ihn nur durch einen regelmäßigen Augenaufschlag und ein leichtes, erotisches Öffnen der Lippen betören würde.
Erfolgschance: keine. Ich habe den dummen Verdacht, dass Patrick Winczewski eher jemanden mag, der spricht.
2. Ich könnte permanent eine Oktave tiefer sprechen. Aber ob man das durchhält? Und wenn ja, wie komme ich aus der Nummer wieder raus? Na ja, wenn sich tatsächlich eine Beziehung entwickelt, könnte ich ja nach und nach immer etwas höher sprechen und mich so sukzessive meiner Originaltonhöhe nähern. Wenn ich dann vor dem Altar in meiner echten Tonlage »Ja, ich will« quieke, wird Patrick das Ganze ja wohl kaum noch abblasen.
Erfolgschance: keine. Einfach nicht praktikabel.
3. Ich könnte versuchen, bis übermorgen heiser zu werden. Pia hatte mal zwei Wochen lang eine Kehlkopfentzündung und klang plötzlich beneidenswert wie Tina Turner.
Erfolgschance: keine. Es ist draußen warm, und ich wüsste schlichtweg nicht, wie ich mich erkälten könnte.
4. Ich könnte mir eine neue Stimme besorgen.
Erfolgschance: keine. Denn dieser Plan ist schon vor ein paar Jahren gescheitert.
Als ich im dritten Semester an der Uni war, fand ich am Schwarzen Brett einen Aushang von einem kleinen Radiosender aus Hamburg. Neue Moderatoren wurden gesucht! Ich sah meine Karriere zwar eher beim Fernsehen (genauer gesagt VOR der Kamera!), aber mein Gott, so ein bisschen Radio konnte nicht schaden, dachte ich. Voraussetzung für ein Vorstellungsgespräch war ein Test bei einer Stimmtrainerin. Diese sollte einen Beleg ausstellen, dass die Stimme grundsätzlich fürs Radio geeignet ist. Sie sollte einem also bescheinigen, dass man eine Stimme hat und nicht stumm ist, dachte ich. Von einem Freund (Praktikant beim Radio, also vom Fach!) hatte ich nämlich mal gehört, dass die Technik beim Radio inzwischen so weit ist, dass jeder Sprecher ein eigenes Sprecherprofil hat. Das heißt, dass man nur ein paar Knöpfe am Mischpult drehen muss und so aus jeder Stimme im Handumdrehen eine warme, tiefe Radiostimme machen kann. Beziehungsweise die Stimme, die man eben gerne haben möchte. Es war also gewissermaßen ein Wunschkonzert der Stimmen. Ich stand vor dem Schwarzen Brett und wusste schon genau, welche Stimme ich wollte: eine Mischung aus Bonnie Tyler (rauchig!) und Marilyn Monroe (die Tonlage, in der sie »Happy Birthday, Mister President« gesungen hat).
Noch am selben Tag vereinbarte ich einen Termin für diesen komischen Sprachtest. Es war zwar überflüssig, aber bitte, im bürokratischen Deutschland müssen eben bestimmte Formalitäten eingehalten werden.
»Können wir das bitte schnell hinter uns bringen?«, fragte ich und gab Sonja Döblin-Paulick den Zettel, auf dem ich ihre Unterschrift benötigte. Sonja Döblin-Paulick war laut Türschild »Ausgebildete Stimmtrainerin« und für diesen Zirkus, den wir veranstalten mussten, verantwortlich.
»Na, na, junge Dame. So schnell geht das nicht. Sprechen Sie mal ein wenig, damit ich mir ein Bild von Ihrer Stimme machen kann.« Sie schloss die Augen und ich plapperte munter drauflos. Je schneller wir damit durch waren, desto schneller konnte meine Karriere beginnen.
Sonja Döblin-Paulick sah mich beunruhigend lange an, als ich fertig war. Und nach einer halben Ewigkeit sagte sie: »Ihre Stimme gehört nicht zu Ihnen.«
»Doch, das tut sie«, sagte ich fröhlich.
»Nein, sie ist viel zu hoch. Versuchen Sie mal, richtig tief zu sprechen. Sagen Sie mal was.«
»Ich versuche jetzt, richtig tief zu sprechen«, brummte ich gefühlte drei Oktaven tiefer und musste kichern. »Hört sich komisch an, oder?«
»Nein«, sagte Frau Döblin-Paulick. »Das klingt schön.«
»Und wenn ich normal spreche?«
»Nun, ehrlich gesagt: Das klingt komisch.«
Sonja Döblin-Paulick sah nicht so aus, als ob sie Witze machen würde. Das war ihr voller Ernst! Sie bemerkte meinen entsetzten Gesichtsausdruck und versuchte zu retten, was zu retten war. Denn zum Glück gab es Entwarnung, von Sonja
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