Fraeulein Stark
schließlich ein böser, wie ein Blutstropfen in ein reines Wasserglas fallender Verdacht: Handelten die feigen Schnapstrinker auf Befehl; Steckte das Fräulein und nicht, wie ich ursprünglich vermutet hatte, der lustige Vize Storchenbein dahinter; Gut, zugegeben, ich hatte wieder gegen das Sechste verstoßen, ich war rückfällig geworden, ich hatte zu diesem verdammten Spiegelchen gegriffen, aber gab das dem Fräulein das Recht, mich zur Strafe in Zweifel und Ängste hineinzudrängen, die mich verfolgten wie hechelnde Hunde?
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Jene Zeit lag weit zurück, ich war noch ein Kind, konnte weder lesen noch schreiben und hockte, wenn ich beim Onkel in den Ferien war, fast den ganzen Tag bei der Mumie im hintersten Teil der unendlich großen Bücherkirche. Ich stellte mir vor, an ihrer Stelle im gläsernen Schrein zu liegen, ohne Lippen, mit ledriger Haut, von den Leuten beglotzt, und ich meine mich zu erinnern, daß mir an diesen endlosen Nachmittagen meiner frühen Kindheit nur etwas Spaß machte: eine Fliege, die die Seitenwände des Schreins bekroch, mit meinem Patschhändchen totzuklatschen. Ja, endlos waren jene Nach-mittage, endlos und trostlos, voller Heimweh nach Mama, die schon damals ein Brüderchen auszubrüten versuchte, natürlich vergeblich, was herauskommt, sagte mir eines Abends nach dem Nachtgebet das Fräulein, kann nicht getauft werden, es kommt in den Schweinekübel und dann in den Limbus, den Ort für das ungetaufte Fleisch.
Der Onkel beschäftigte sich kaum mit mir, für ihn war ich ein Dreikäsehoch, seiner Worte nicht würdig, ich aß in der Küche, und ertönte drüben die Klingel, unter dem Eßzimmertisch vom Schnallenschuh gedrückt, ging es mir wie dem Fräulein: Beide erschraken wir ein wenig.
Hie und da erzählte sie mir von den harten Wintern in den Bergen, und da sie selber am Heimweh litt, spürte sie natürlich, daß ich auf der Bücherarche eine lange, eine quälend lange Zeit hatte. Schließlich hielten wir es beide nicht mehr aus, das Fräulein winkte mich nah an ihr Schnäuzchen heran und sagte leise: Wollen wir eine Reise machen?
Ins Appenzellische, fragte ich begeistert, worauf sie nickte: Ja, sagte das Fräulein, ins Appenzellische, in meine Heimat, in die Berge.
Diese Ausflüge gehören zu meinen frühen und schönsten Erinnerungen, und noch heute habe ich das Fräulein genau vor Augen, wie sie am verabredeten Montag, da die Bibliothek geschlossen war, im Wanderkostüm meine Kammer betrat, das Jägerhütchen keck vor dem Haarknoten: Auf, Bub, es geht in die Berge!
Während der Onkel noch schlief, traten wir aus dem nächtig kühlen Treppenhaus in den aufdämmernden Tag hinaus, in ein eben erwachendes Vogelgezwitscher, gingen durch menschenleere Straßen zum Bahnhof und verließen, beide mit gierigen Augen die vorbeisausenden Häuser bestaunend, mit dem ersten Kurs des roten Appenzeller Bähnchens die Stadt. Kaum hatten wir die Talsenke verlassen, zackte unter der Lokomotive das Zahnrad ein, der Hang wurde steiler, und im Morgendunst versank das alte Kloster samtOnkel und Kathedrale und Bibliothek. Über Wiesen ging es höher, an läutendem Vieh vorbei, es wurde sonnig, aber wärmer wurde es nicht. Brunnadern, wo auch im Sommer eine kellerfeuchte, winternahe Kühle herrschte, war die Endstation.
Man kletterte fröstelnd aus dem Waggon, fürchtete sich vor den hochaufragenden, graunassen Wänden, das Fräulein jedoch, kaum war sie leichtfüßig auf ihrem Boden gelandet, stieß, den Kopf in den Nacken werfend, einen derart jähen, schönschaurigen Juchzer aus, daß sie das Echo von allen Seiten in ihrer Heimat willkommen hieß. Noch auf dem Perron, der letzten flachen Strecke, nahm sie mich an die Hand, beide bückten wir uns in den Bergschritt, dann ging es durch die schluchtigen, von kalten Bächen durchsprudelten Täler langsam, aber stetig bergauf. Was siehst du dort oben?
Ein angeschriebenes Haus. .
Recte dicis, lobte sie.
Ich hatte schon als Kind gemerkt, daß es dem Fräulein ein gewisses
Vergnügen bereitete, mich auf die Wirtshausschilder hinzuweisen. Hier, in ihrer Heimat, konnte sie alles verstehen, sogar die Buchstaben.
Wenn ich mit dem Onkel behaupte, das innere Appenzell sei damals, Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts, der fernste aller Planeten gewesen, eine abgeschlossene, zwischen hohen Felsen in die Stille versenkte Welt, übertreibe ich nicht. Kaum von Radiowellen, geschweige von Fernsehbildern berührt, konnte sich der inzüchtig
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