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Fraeulein Stark

Titel: Fraeulein Stark Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Huerlimann
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verkuppelte Stamm, der hier seit Gletscher-Zeiten entweder melkend unter dem Vieh oder in niederen Gaststuben hockte, alle Eigenarten und Sonderlichkeiten bewahren und ungerührt weitertreiben, was man von den Ahnen übernommen hatte. Die einen hießen Broger, Manser die andern, und ein paar wenige, die ob der Baumgrenze siedelten, hießen Stark. Viel zu tun hatten sie nicht, denn die runden Käslaiber und die Schweine, von denen sie lebten, reiften von selbst, weshalb sie ihre Tage in angeschriebenen Häusern verdämmerten, meist stumm, gottesfürchtig, schicksalsergeben, wendisch, sagten sie, sei das Wetter, nicht der Appenzeller. Nein, es ist keine Übertreibung, sondern die pur-lautere Wahrheit: Jeder Hügel, jede Höhe, jeder Gipfel trug ein angeschriebenes Haus, und da alle zum allerhöchsten Gipfel blickten, zum Säntis hinauf, der sich wie eine fein verschneite Kathedrale aus dem Dunst erhob, hießen sie samt und sonders »Säntisblick«.
    An angeschriebenen Häusern soll man nicht vorbeigehen, pflegte das Fräulein zu sagen, also traten wir ein, setzten uns an den Tisch und tranken dann, von den Knopfaugen der Dahocker unentwegt angestarrt, unsere schwarzen Wasser, die Stark einen Likör und ich eine Vivi-Kola. Nie wurden wir von einem Wirt begrüßt, nie verabschiedet, und hatten wir einen »Säntisblick« verlassen, um nach längerem Marsch durch die kalt und feuchter werdende Schlucht den nächsten »Säntisblick« zu erreichen, hatte ich jedesmal das Gefühl, wieder am Ausgangsort, nämlich im unteren »Säntisblick«, angelangt zu sein.
    Eine vertrackte Geschichte! Auf jeder Anhöhe erwartete uns dieselbe Gastwirtschaft, nämlich der »Säntisblick«, und in diesem »Säntisblick«, wie in jedem »Säntisblick«, schwammen die gleichen Augenpaare im bläulichen Rauch und schienen sich immer wieder von neuem dafür zu interessieren, wie die Stark und ich unsere schwarzen Wasser tranken, sie einen weiteren Likör und ich eine Vivi-Kola. Bref: Wir stiegen höher, kamen aber nicht vom Fleck, nur in den nächsten »Säntisblick«, wo es stets die gleichen Augenknöpfe gab, die gleichen Augenknöpfe und die gleichen, wie aus Narben hängenden Pfeifen. Die Stark jedoch, als würde sie von der Appenzeller Dieselbigkeit zum Gegenteil angestachelt, wurde von »Säntisblick« zu »Säntisblick« fröhlicher, und zwar derart, daß das Fräulein im ersten »Säntisblick« und das Fräulein im letzten zwei völlig verschiedene Personen waren, schweigend die eine, übersprudelnd die andere, wobei diese andere, die ich natürlich lieber mochte, die Runden auch dann ausgab, wenn keine Männerhand den Pfeifenhaken aus der Mundnarbe herausnahm und sich für den Schnaps beim Fräulein bedankte. Nunu, rief sie dann, Nepos, bibiamus! Komm, Neffe, zwitschern wir noch einen!
    An einem Herbstnachmittag - ich war etwa sechs oder sieben Jahre alt und seit gut zwei Wochen beim Onkel in den Ferien -gingen wir wieder einmal von »Säntisblick« zu »Säntisblick«. Als sie ihren sechsten oder siebten Likör intus hatte, wollte sie eigentlich umkehren, entschloß sich dann aber, vor dem Einnachten noch eine Stufe höher zu steigen. Dort oben, meinte sie kichernd, könnte sie eventuell einen Bekannten treffen, Broger sein Name, wir kraxelten los, der Weg wurde steil, der Abgrund tief. Wo sollte hier oben einBroger wohnen; Über naßglatte Steine krochen wir weiter, höher und höher hinauf, es wurde dunkler, es wurde kälter, Nebelschwaden wallten da wandauf, dort in die Tiefe, wo sie zwischen wetterzerfetzten Tannen wie in einem Staurechen abgingen. Eine alte, appenzellerisch äugende Bergdohle war weiter unten zurückgeblieben, auch der Himmel blieb zurück, soff mit dem Nebel ab, verstrudelte im Rechen und dann, plötzlich, geschiehts. Mit einem augenbetäubenden Glanz spannt sich hoch über uns ein neuer Himmel auf, unendlich weit und unendlich blau, es glänzen die Firne, es leuchten die Schneefelder, und: Schau, Bub, jubelt die Stark, dort ist der Gipfel, dort hockt der Broger!
    Sie täuschte sich nicht. Auf einem Felsenturm, den unser Weg wie über die Zacken eines Riesendrachenhalses erreichte, prangte in frohbunten Farben eine Bretterbude. Sie lachte, die Stark, ich winkte, und mit frischen Kräften machten wir uns an den letzten, nicht ungefährlichen Stieg.
    Wurde unser Herankommen durch den Feldstecher beobachtet; Tatsächlich, aus dem einzigen Fenster blitzte etwas heraus, aber das war, mußten wir auf den letzten Metern

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