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Frag die Karten

Frag die Karten

Titel: Frag die Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Grund, um nach jungem
Fleisch Ausschau zu halten.« Anyas Hände bewegten sich nach oben, bedeckten ihr
Gesicht und strichen dann massierend darüber, als ob es schmerzte wie eine Wunde.
    Ich wandte mich ab, um nicht ansehen zu
müssen, wie sie sich quälte.
    »Aber er kann nicht viel Glück mit den
jungen Damen gehabt haben«, murmelte sie mehr zu sich, als an mich gerichtet.
»Wie wäre es sonst möglich, daß er auf dem nackten Boden schläft, im Keller der
alten Kirche?«
    »Sie meinen, er wohnt in der Kirche,
die heute zum Blindenzentrum gehört?«
    Sie nickte. »Nach allem, was er mir
angetan hat, müssen sie mich für verrückt halten, wenn ich mir noch Sorgen
mache um ihn. Aber dort unten ist es feucht und kalt und zugig, und er erkältet
sich so leicht. Warum er dort bleibt...« Sie brach ab, und ihre Augen waren
tränennaß. »Ja, ich liebe ihn immer noch. Ganz schön dumm, wie?«
    »Keineswegs«, sagte ich betreten und
fühlte mich nicht gerade wohl in meiner neuen Rolle als Vertraute der
Wahrsagerin.
    »Aber so ist es nun einmal, meine
Liebe, so ist es.« Sie seufzte schwer auf und schneuzte sich dann in ein
spitzenbesetztes Taschentuch.
    Ich fragte: »Wie hat Jeffrey diesen Job
im Blindenzentrum bekommen?«
    Sie schniefte verächtlich. »Ich weiß
nicht, ob man das einen Job nennen kann. Er hat es nicht mit der Arbeit.
Jeffrey lernte Herb Clemente kennen, als er aus dem Gefängnis entlassen wurde.
Clemente hat ihn angeblich irgendwie beraten, aber ich bin nicht sicher, daß
das gut war für ihn. Jeffrey war noch immer ohne Job, als Clemente und dieses
Blindenzentrum hierher in die vierundzwanzigste Straße zogen, also hat er sich
bei Clemente gemeldet. Und Clemente hat ihn als Boten beschäftigt. Dann, vor
zwei Monaten, hat mir Jeffrey schließlich eröffnet, daß er mich verlassen und
in der Kirche wohnen würde.*
    »Weshalb ist er ins Gefängnis
gekommen?«
    Ihre länglichen Kieferknochen wirkten
noch härter als zuvor. »Jeffrey war früher Lastwagenfahrer. Er hat gut verdient
und wollte schon einen eigenen Betrieb aufmachen. Aber nein, er gab sich nicht
damit zufrieden. Er hat Zeug von der Fracht gestohlen, die er befördern sollte,
und ist dabei erwischt worden. Daraufhin mußte er zwei Jahre ins Gefängnis, und
ich habe ihm die ganze Zeit über beigestanden. Ja, ich habe ihm viel Gutes
getan, und Sie sehen, wie er es mir jetzt lohnt.«
    Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.
»Das tut mir leid«, erwiderte ich wenig tröstlich.
    »Ach, meine Liebe, so ist das Leben.«
Sie erhob sich mühsam. »Aber so geht es nicht mehr weiter. Ich werde ihn
zurückholen. Ich habe schon einen Plan dafür. Warten Sie nur, Sie werden sehen,
daß er wieder zu mir zurückkommt.« Sie hielt mir die Tür auf. »Und sagen Sie
mir am Freitag, ob ich die Kerzen für Sie anzünden soll, ja?«
    Ich versprach es und wollte die Treppe
hinuntergehen.
    Auf dem Treppenabsatz fielen mir die
weißen Bohnen in meiner Handtasche ein. Die Packung war feucht und durchweicht,
trotz der dünnen Isolierung der Tüte, in der sie steckte. Ich schaute auf meine
Armbanduhr. Halb zehn — ich hatte die Packung also erst vor dreieinhalb Stunden
aus der Tiefkühltruhe genommen. Jetzt lief ich nach unten und hinaus auf die
Straße.
    Die Fenster des Lebensmittelladens von
Mr. Moe waren unbeleuchtet. Mr. Moe schien heute früher Feierabend gemacht zu
haben. Ich schaute hinauf in den ersten Stock, wo der Lebensmittelhändler
wohnte. Auch dort war kein Licht zu sehen.
    Mein Schwung erlahmte, und ich stand
still. Was tun? Der Abend hatte gerade erst begonnen.
    Mr. Moe war offenbar nicht zu sprechen,
aber vielleicht hatte Sebastian nichts gegen ein bißchen Gesellschaft
einzuwenden. Obwohl der Mann mit den Bürsten blind war, nahm ich an, daß er
mehr über das wußte, was in unserer Nachbarschaft vor sich ging, als mancher
von uns, die wir sehen konnten. Ich warf die feuchte Packung in einen
Abfallkorb und machte mich auf den Weg nach der 24. Straße.
     
     
     

Kapitel
9
     
    Auch abends um halb zehn war die 24.
Straße noch belebt. Die Leute schlenderten die Gehsteige entlang, kamen aus den
Bars, drängten hinein oder suchten sich einen Platz in einem der winzigen
Cafés. Ich dagegen schritt zielbewußter aus.
    Das Sunrise-Blindenzentrum, etwas von
der Straße zurückgesetzt, lag im Schatten der Bäume und war von einem hohen
Eisengitter umgeben. Ich wollte gerade die Straße überqueren und darauf
zugehen, als zwei Gestalten aus dem Tor traten:

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