Frag die Karten
Clemente und Linnea. Sie kamen
auf den Gehsteig und kuschelten sich aneinander; Clemente hatte Linnea den Arm
um die Schultern gelegt. Der Leiter des Blindenzentrums schien ein Draufgänger
zu sein, und meine Freundin stand ihm, was das betraf, offenbar nicht nach.«
Ich blickte ihnen nach, während sie
davonschlenderten, dann überquerte ich die Straße und stieß das knarrende
Gittertor auf. Ein Weg aus Betonplatten führte zur beleuchteten Front der alten
Kirche. Alles war still.
Die Kirche war ein Ziegelbau; unter dem
Giebel des dunklen Dachs aus dicken Holzbalken befand sich das Portal. Das
Kreuz, das einst den Giebel geziert hatte, war verschwunden, und ein leuchtend
buntes, in primitiver Kunst ausgeführtes Fresko füllte die Fläche unter dem
Dachgiebel aus; es stellte einen Sonnenaufgang dar. Über der Tür stand in
ungelenk aus Holz gehauenen Buchstaben: ›Sunrise — Der Sonnenaufgang neuen
Lebens und neuer Hoffnung.‹
Etwas seltsam für ein Blindenzentrum,
dachte ich. Keiner der Patienten — oder Bewohner, wie Clemente sie nannte — war
in der Lage, das Fresko zu sehen, geschweige denn, die Schrift zu lesen.
Der Plattenweg führte um die Kirche
herum. Im ehemaligen Pfarrhaus brannte Licht, ebenso im früheren Klostertrakt,
der sich weit hinten auf dem weitläufigen Gelände erstreckte. Auch im
Parterregeschoß der Kirche fiel ein schwacher Lichtstrahl durch eines der
Fenster. Ich klopfte an die Seitentür.
Ein großer, schlanker Mann mit leicht
ergrautem Haar und einem zerzausten Schnurrbart öffnete. Ich erkannte in ihm
jemanden, den ich schon mehrfach in meinem Apartmenthaus gesehen hatte. Er
stand unter der Tür, schwankte ein wenig, und seine Pupillen waren weit
geöffnet, als hätte er irgendein Rauschgift genommen. Jetzt richteten sich
seine Augen auf mich, und er zog die buschigen Brauen zusammen, so daß tiefe
Falten die Stirn durchfurchten.
Er brummte: »Ich habe aber keine Pizza
bestellt.«
»Wie gut — ich bringe nämlich keine.«
Die Stirn blieb immer noch gefurcht.
»Wer weiß, ob das gut ist. Jetzt, wo wir davon sprechen, bekomme ich nämlich
Appetit. Es muß schon lange her sein, daß ich etwas gegessen habe.« Er schaute
mich an und überlegte einen Augenblick. »Nein, ich erinnere mich beim besten
Willen nicht. Was wollen Sie?«
»Sind Sie Jeffrey Neverman?«
»Ja.« Es klang zweifelnd, als wüßte er
es selbst nicht so genau. »Und wer sind Sie?«
»Sharon McCone. Ich wohne im selben
Haus wie Anya.«
»Anya. Anya mit dem Pferdegesicht.«
Neverman schwankte, hielt sich am Türrahmen fest und fand wieder das
Gleichgewicht. »Aber ich sollte nicht so von ihr reden. Schließlich ist sie
meine Frau. Kommen Sie rein.«
Ich trat an ihm vorbei ins Innere und
wäre fast über ein paar Stufen gestolpert. Neverman hielt mich an der Schulter.
Ich fühlte durch den Pullover, wie kalt seine Finger waren. »Vorsichtig«,
warnte er mich. »Wir müssen nach unten.«
Ich hielt mich am Geländer fest und
folgte ihm. Es wäre besser gewesen, wenn er eine Kerze bei sich gehabt hätte
statt der Taschenlampe, die er einschaltete und deren schmaler Lichtkegel nach
oben und unten schwankte. Er führte mich hinunter in einen engen Korridor mit
dicken Heizungsrohren an der Decke, dann in einen kleinen Raum.
Auf einer Luftmatratze in der Mitte lag
ein Schlafsack. Daneben eine Holzkiste, darauf ein Kofferradio, ein Stapel
Bücher und ein Aschenbecher mit Stummeln, die wie die Reste von
Marihuanazigaretten aussahen. Und die Kerze, die mir auf dem Weg hierher
willkommen gewesen wäre, flackerte auf einer Weinflasche, die am Boden stand.
In dem Raum roch es süßlich nach verbranntem Gras.
»Bitte, setzen Sie sich«, sagte
Neverman. »Auf die Couch.« Dazu kicherte er schrill.
Ich ließ mich auf den Schlafsack
sinken, und mein Gastgeber nahm im Schneidersitz auf dem nackten Boden Platz.
Dann langte er nach einer der kurzen Kippen im Aschenbecher, zündete sie an und
reichte sie mir.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke.
Ich muß heute abend einen klaren Kopf bewahren.«
Er schnitt eine Grimasse. »Sie müssen
eine Freundin von Anya sein. Die behält auch immer einen klaren Kopf. Wenn die
Frau sich bloß mal ein bißchen gehenlassen könnte... Was ist mit ihr?«
»Ihre Freundin, Molly Antonio, ist
ermordet worden.«
»Hab’ ich gehört.«
»Anya sagt, daß sie es prophezeit hat.«
»Scheiße. Selbst wenn eine Freundin von
ihr dran glauben muß, tut sie so, als hätte sie es mit ihrer
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