Frag die Karten
zu
regnen auf. Wenn es so gießt, fährt kein Mensch hinaus nach Colma.« Damit
meinte er das große Friedhofsgelände, eine Totenstadt am Südrand von San Francisco.
»Das läßt sich doch keiner nehmen«,
antwortete Tim und schrieb mühsam die Quittung aus. »Molly hatte viele
Freunde.«
»Ja, das hatte sie.« In der Stimme von
Gus lag ein wehleidiger Unterton, der entweder Molly oder seinem eigenen,
freudlosen Zustand galt. Dabei ging er immer noch auf und ab und schaute über
die Schulter auf Tim, der ihm den Rücken zuwandte.
Dann blieb er vor dem Bücherregal neben
der Tür stehen, warf noch einmal einen Blick auf Tim und packte den am nächsten
stehenden Aschenbecher. Mit einer raschen Bewegung verschwand der Aschenbecher
in seiner Jackentasche.
Diesmal hatte ich Mühe, einen empörten
Ausruf zu unterdrücken.
Tim drehte sich um. »Da haben wir’s.«
Er reichte Gus die Quittung. »Aber sieh zu, daß du pünktlich zahlst — und keine
wilden Partys, hast du verstanden?« Dazu lachte er rauh.
Gus verabschiedete sich kichernd.
Ich trat aus dem Alkoven. »Das ist
wirklich eine Überraschung. Als ich zuletzt mit den beiden sprach, waren er und
Sebastian so gut wie pleite.«
»Ja — keine Ahnung, woher sie plötzlich
das Geld haben. Und die zwei miteinander in einer Wohnung — ich wette, Molly
rotiert noch im Grab.«
»Warum?«
»Sie war nie einverstanden mit dem, was
Gus getan hat — es sei denn, sie hatte es befohlen.«
»Er ist erstaunlich schnell unabhängig
und selbstbewußt geworden.« In meinen Gedanken formte sich ein Verdacht. »Tim,
Sie kennen Gus und Molly doch schon lange?«
»Seit ich hier den Hausmeisterposten
übernommen habe, vor fünfzehn Jahren. Damals haben sie noch beisammen gewohnt.«
»Dann erinnern Sie sich auch daran, als
Molly ihn rausgeworfen hat.«
»Und ob ich mich daran erinnere. Sie
hat ihm das Zimmer dort oben auf dem Hügel gemietet und ihn mit Sack und Pack
vor die Tür gesetzt. Zuerst hat er sich fürchterlich beklagt und ein paar Nächte
vor ihrer Tür geschlafen. Aber als er sich dort oben eingewöhnt hatte, schien
es ihm zu gefallen.«
»Wissen Sie, warum Molly ihn
rausgeworfen hat?«
Tim trank einen Schluck Bier und
rülpste dann. »Klar. Sie hat’s einfach nicht mehr ausgehalten.«
»Was denn?«
»Das wissen Sie nicht?«
»Nein. Erzählen Sie.«
»Gus ist Kleptomane — einer von denen,
die alles mögliche klauen und gar nichts dafür können.«
Natürlich! Das mußte es sein.
»Glauben Sie mir«, fuhr Tim fort, »es
war schwer genug für Molly, damals, als sie noch bei Knudsen gearbeitet hat. Er
hat sie dort besucht und dabei immer was mitgehen lassen. Ein paarmal ist er
dabei erwischt worden. Sie hat das Zeug bezahlt, das er geklaut hat. Aber dann,
als sie pensioniert wurde, ist es ihr wahrscheinlich auf den Wecker gegangen.
Sie wissen ja, von da an war sie den ganzen Tag mit ihm zusammen. Jedenfalls,
sie hat es nicht mehr ausgehalten und ihn rausgeschmissen.«
Mir fiel wieder ein, daß Sebastian Gus
gefragt hatte, ob er Bürsten aus seinem Parka genommen hätte. Und Gus hatte den
Unschuldigen gespielt. Peinlich.
»Was ist los?« fragte Tim. »Hat er
Ihnen auch was geklaut?«
»Schon möglich. Jedenfalls hat er Sie
bestohlen.«
»Wirklich?« Tim schaute sich
argwöhnisch um.
»Ja. Wenn Sie ihn das nächstemal sehen,
fragen Sie ihn nach Ihrem Aschenbecher von der Ensenada Inn.«
»Mich laust der Affe! Verdammt noch
mal!«
Als ich mich frischgemacht hatte und
bereit war, aufzubrechen, schüttelte Tim noch immer den Kopf und begutachtete
besorgt seine Sammlung von Aschenbechern.
Kapitel
19
Vor dem Blindenzentrum parkten keine
Polizeifahrzeuge, weder Streifenwagen noch neutrale Wagen der Kriminalpolizei.
Das konnte bedeuten, daß sie Neverman bereits abgeholt hatten zu einem Verhör
im Zusammenhang mit dem Tod seiner Frau. Andererseits war es möglich, daß sie
nicht wußten, wo er sich derzeit aufhielt. Jedenfalls war ich ziemlich sicher,
daß ich ihm hier nicht begegnen würde.
Ich lief rasch über den Plattenweg zur
Kirche und hielt mich dabei im Schutz der Büsche. Im Keller war es kalt und
feucht, und Nevermans Quartier war verlassen. Ich ging hinein und inspizierte
die Stummeln im Aschenbecher. Sie rochen so, als ob sie schon vor längerer Zeit
geraucht worden wären. Und der Schlafsack auf dem Boden fühlte sich klamm an;
hier hatte in der vergangenen Nacht sicher niemand geschlafen. Wahrscheinlich
war Neverman nicht
Weitere Kostenlose Bücher