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Frag die Karten

Frag die Karten

Titel: Frag die Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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mach Hause‹ gekommen.
    Um meinen Hauptverdächtigen
gefühlsmäßig besser zu erfassen, blätterte ich die Bücher auf der Holzkiste
durch. Sie stammten aus der öffentlichen Bibliothek; ein dicker Bildband mit
den Werken von Paul Gauguin, eine Biographie über denselben Maler und mehrere
Reisebücher über Tahiti. In dem Band mit den Werken Gauguins fand ich die
kühnen Farben und schönen Formen wieder, die Neverman bei seinem gräßlichen
Fresko über dem Kirchenportal zu imitieren versucht hatte.
    So hatte ein jeder seinen Traum, dachte
ich, auch wenn er noch so unerfüllbar sein mochte. Träumte Neverman von einer
Idylle an einem tropischen Strand, das mit dem Erlös aus geklauten
Gummihandschuhen und Schnürsenkeln finanziert werden sollte? Und Clemente:
Hielt er die Hehlerei für einen Weg, um der bürokratischen Schutthalde zu
entkommen, welche sich den Behinderten und Gestrauchelten in den Weg stellte,
und wo der rote Stift und die Verweigerung staatlicher Gelder ihm nichts als
Frustration und Versagensängste einbrachten?
    Ich klappte das Buch zu.
    Der Lagerraum am Ende des Korridors war
vollgepackt mit Kartons, auf denen die Namen von Kosmetikfirmen, Textilfabriken
und Elektronikherstellern prangten. Ich entdeckte Transistorradios,
Taschenrechner, Bohrmaschinen und Pinsel, Kaschmirpullover und Bratpfannen. Ich
fand mehrere Kartons mit Stereokomponenten, einen Stapel einzeln verpackter
Elektrotöpfe und Schachteln mit Modeschmuck. Das alles war zweifellos Hehlerware,
und ebenso überzeugt ging ich davon aus, daß Clemente gefälschte Quittungen
dafür beibringen konnte. Obwohl ich mitten in einer Schatzhöhle heißer Ware
stand — ich würde es wahrscheinlich nie beweisen können.
    Ein Raum, dessen Tür mit einem Vorhängeschloß
gesichert war, enthielt vermutlich weiteres Diebesgut. Ich nahm meine Sammlung
von Nachschlüsseln aus der Handtasche und probierte aus, ob einer der kleineren
paßte. Nach ein paar Minuten sprang das Schloß auf.
    Hinter der Tür standen Holzkisten von
Wand zu Wand. Ich öffnete den Deckel einer der Kisten und schaute hinein.
    Dicke grüne Flaschen mit rotem Siegel.
Das Markenzeichen von Tanqueray-Gin. Ich nahm eine der Flaschen heraus und
hätte sie beinahe fallen gelassen wie Mr. Moe am Abend zuvor.
    Diese Flaschen mußten aus dem Diebstahl
der beiden Container stammen, über den der San Francisco Chronicle berichtet hatte. Die Ware hatte einen Wert von vierhundertsechzigtausend
Dollar, also hatten Clemente, Neverman und Moe höchstens hunderfünfzigtausend
dafür investiert — ein Drittel des Verkaufswerts, den die Diebe in der Regel
forderten, auch wenn sie nicht so viel bekamen. Und ganz gleich, an wen sie den
Gin verhökerten, sie konnten ihre Investitionen leicht verdoppeln.
    Ich starrte auf die grüne Flasche und
dachte über Mr. Moes Rolle in diesem Spiel nach.
    Um gestohlene Waren umzuladen, brauchte
man einen Ort, wo viele Lieferanten ihre Fracht abluden. Der Dieb konnte dort
ohne Aufsehen seine Ware loswerden und verschwinden. Er brauchte sie auch nur
im Lastwagen zu lassen; sobald die Luft rein war, konnte man sie dann an den
endgültigen Übergabeort transportieren. Auf diese Weise war das Risiko für den
Dieb wie den Hehler gering.
    Wem würde es auffallen, wenn sich unter
den Dingen, die dem Albatroß-Laden tagtäglich geliefert wurden, einige Waren
befanden, die nicht zu den üblichen Artikeln eines Lebensmittelgeschäfts
gehörten? Und wer kümmerte sich darum, wenn die Ladung anschließend von einem
Lieferwagen des Blindenzentrums übernommen wurde? Wer würde sich etwas dabei
denken, wenn im Blindenzentrum Lastwagen ein und aus fuhren? Man konnte davon
ausgehen, daß dort nur en gros eingekauft wurde.
    Aber wie wollte man zwei
Containerladungen Gin durch den kleinen Lebensmittelladen schleusen? Die Diebe,
die ich am Pier im Indienhafen beobachtet hatte, waren sicher nervös und
verlangten, daß das Unternehmen rasch über die Bühne ging. Gab es noch weitere
Depots bei anderen Lebensmittelgeschäften in der Gegend? War das der Grund
dafür, daß ich den Wagen des Blindenzentrums so oft im Missionsviertel gesehen
hatte, obwohl Sebastian derjenige war, der die Bürstenlager in den Geschäften
auffüllte?
    Vielleicht war ich auf ein ganzes
Netzwerk von Depots für Hehlerware gestoßen.
    Der Gedanke war faszinierend.
    Ich stellte die Ginflasche zurück in
den Karton und nahm mein Notizbuch heraus, dann notierte ich die auf die Kisten
gestempelten Inschriften:

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