Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frag die Karten

Frag die Karten

Titel: Frag die Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
so viele Unannehmlichkeiten bereitet habe, und
ich hoffe, es hat unserer Freundschaft nicht geschadet, wenigstens nicht auf
Dauer.«
    »Ich...« Aber ich brachte kein Wort
heraus, konnte nur verwirrt den Kopf schütteln. »Ich... Nein, natürlich nicht,
davon kann keine Rede sein. Aber du mußt zugeben, daß es eine verblüffende
Verwandlung ist. Wie ist es dazu gekommen?«
    Wieder lachte sie nervös. »Ach, du
weißt ja — einmal erlebt jeder seinen Augenblick der Wahrheit. Ich glaube, man
könnte sagen, ich habe den meinen gestern abend gehabt.«
    »Möchtest du mir davon erzählen?«
    »Klar. Warum nicht?« Sie lehnte sich
zurück und glättete ihre sorgfältig gebügelte Hose. »Siehst du, ich war
furchtbar durcheinander, als du weggegangen bist. Niemand hat mich je zuvor so
angeschrien. Nicht Mama, nicht einmal Jim — niemand. Als Jim mich verließ, hat
er so gut wie gar nichts gesagt; das hat ihm sein Anwalt abgenommen. Du — du
hast mir damit richtig den Boden unter den Füßen weggezogen.«
    »Und dadurch bist du zur Vernunft
gekommen?«
    »Nein. Im Gegenteil, es hat alles noch
schlimmer gemacht. Ich entschloß mich — Selbstmord zu begehen.«
    »O Gott, nein!«
    »Doch.« Sie nickte ernst. »Es war die
ganz große Horrorschau: ein Rasiermesser, eine Badewanne mit warmem Wasser und
ich, die letzte Flasche Alkohol in der Hand... Aber ich habe es nicht
geschafft. Ich hatte Angst, du könntest nicht rechtzeitig zurückkommen und mich
finden. Kannst du dir das vorstellen? Ich, die immer solche theatralischen
Dinge verachtete, versuchte das Theatralischste von allem?«
    Ich schaute auf ihre Handgelenke. Keine
Bandagen. Keines der kleinen Anzeichen, wie sie ein Selbstmordversuch
hinterläßt.
    »Es ist mir jedenfalls klargeworden,
was ich für ein totaler Versager bin, als dieser Polizist an die Tür kam. Ich
lag in der Wanne und dachte, du wärst es und hättest vielleicht deinen
Schlüssel vergessen. Ich stellte mir vor, wie Tim dir die Tür aufbrechen würde,
und wie geschockt du wärst, wie leid es dir täte. Aber der Polizist hörte nicht
auf, an die Tür zu klopfen, und schließlich mußte ich doch aus der Wanne und
nachsehen. Als er dann sagte, daß Madame Anya ermordet worden ist... Ach du
meine Güte!«
    »Und was hast du daraufhin getan?«
    »Ich bin wütend geworden auf mich
selbst. Dachte an das, was du gesagt hast, daß ich zumindest am Leben bin, auch
wenn ich sonst nicht viel habe. Das Leben ist mir schon seit langer Zeit nicht
mehr viel wert gewesen; ich haßte mich, weil ich ein so theatralischer Feigling
geworden war, und sagte mir: ›Okay, nimm dein lausiges Leben und spiel damit!‹«
    »Was?«
    »Genau. Erinnerst du dich, als wir als
junge Mädchen die Karten befragt haben?«
    Ich nickte. Die Patiencen, die wir uns
damals in San Diego gelegt hatten...
    »Ich entschloß mich, eine einzige
Patience zu legen«, berichtete Linnea. »Die Frage sollte heißen: Wird es mir
gelingen, mein Leben in Ordnung zu bringen? Wenn die Patience auf ging, wollte
ich es versuchen. Wenn nicht...« Sie strich sich mit dem Zeigefinger der einen
Hand über das Handgelenk der anderen.
    Ich schlug mir die Hände vors Gesicht
und zitterte. Die Chance, daß eine Patience beim ersten Versuch aufging, war
ziemlich gering.
    Linnea fuhr fort: »Jedenfalls, um das Melodrama
kurz zu machen, ich legte die Patience, und sie ging auf. Dabei wurde mir klar,
daß ich den Tatsachen ins Auge sehen und mein Leben in die Hand nehmen mußte,
ob mir das nun paßte oder nicht. Denn ich hatte solches Glück gehabt, ein
gesegnetes Glück... O Sharon!«
    Ich weinte; die Tränen liefen mir durch
die Finger und an den Handrücken entlang. Ich zitterte am ganzen Körper.
    »Shar, nicht! Es ist ja alles gut. Die
Patience ist aufgegangen. Und ich glaube nicht, daß ich mich zusammengerissen
hätte ohne diesen Schock... He, komm schon!«
    Linnea setzte sich auf die Armlehne
meines Sessels und legte die Hände auf meine zuckenden Schultern. »Sharon
nicht! Es ist ja alles wieder gut.«
    Ich wollte, ich hätte ihr glauben
können. Vorläufig gab ich mich diesem überraschenden Rollentausch hin und
drückte mein verweintes Gesicht gegen die Brust meiner Freundin.
    Als ich mich beruhigt hatte, ging
Linnea wieder zu ihrem Sessel und zündete sich eine Zigarette an. Ihre
Bewegungen waren ruhig und maßvoll. Ich konnte diesen Wechsel innerhalb von
nicht einmal vierundzwanzig Stunden kaum glauben.
    Nachdem ich mich dem Tränenausbruch
hingegeben

Weitere Kostenlose Bücher