Frag die Toten
schon an dem Punkt angekommen, an dem er auch andere Möglichkeiten in Betracht zog? War er schon so weit, dass er das besondere Angebot, das sie ihm zu machen hatte, annehmen – und dafür zahlen – würde?
Keisha war überzeugt, dass dies der richtige Moment war. Der Mann war am Vortag vor die Kameras getreten. Heute Morgen war er in allen Nachrichten zu sehen gewesen. Es war ein Zeichen von Verzweiflung, wenn man sich an die Öffentlichkeit wandte. Das bedeutete sicher, dass die Polizei nicht weiterkam. Und das war immer der beste Zeitpunkt, sich einzuschalten. Zu lange durfte man nicht warten. Denn sonst konnte es geschehen, dass eine Leiche auftauchte, und selbst der verzweifeltste Angehörige brauchte dann Keisha Ceylons Visionen nicht mehr.
Hoffnung hieß das Zauberwort, das hatte sie auch Justin gesagt. Man musste diese Menschen erreichen, solange sie noch Hoffnung hatten. Solange sie noch hofften, waren sie bereit, alles auszuprobieren, ihr Geld für die verrücktesten Sachen hinauszuwerfen. Besonders wenn alle konventionellen Methoden – Aufrufe an die Nachbarn, Suchhunde, Personensuche aus der Luft – nichts gefruchtet hatten. Dann waren die Angehörigen offen für das Unorthodoxe. Wie zum Beispiel eine nette Dame, die plötzlich vor der Tür stand und sagte: »Ich habe eine besondere Gabe, und ich möchte sie Ihnen zur Verfügung stellen.«
Gegen Entgelt, versteht sich.
Die Vermisste des heutigen Tages war Eleanor Garfield. Den Berichten zufolge war sie weiß, dreiundvierzig, einen Meter sechzig groß, wog schätzungsweise siebzig Kilogramm, hatte kurzes schwarzes Haar und braune Augen.
Alle nannten sie Ellie.
Zuletzt gesehen wurde sie, nach Aussage ihres Ehemanns Wendell, Donnerstagabend gegen sieben. Sie war in ihren Wagen, einen silbernen Nissan, gestiegen, um die Lebensmittel einzukaufen, die sie nächste Woche brauchen würden. Ellie Garfield arbeitete in der Verwaltung der örtlichen Schulbehörde und machte ihre Besorgungen lieber unter der Woche. Am Wochenende wollte sie bereits alles erledigt haben. Und in ihren Augen begann das Wochenende schon am Freitagabend.
Donnerstagabends wurde also eingekauft.
So konnte sie den Freitag mit einem langen, heißen Bad beginnen. So viel hatte Keisha auf die Schnelle aus Internet und Fernsehen erfahren. Nach dem Bad schlüpfte sie in ihren Pyjama und den rosa Morgenmantel und machte es sich vor dem Fernseher bequem. Und zwar hauptsächlich wegen der Geräuschkulisse, denn auf den Bildschirm sah sie nur selten. Ihre Aufmerksamkeit galt ihrer Strickerei.
Stricken war schon immer ihr Hobby gewesen, doch erst in den letzten Jahren tat sie es mit solcher Inbrunst. Ein Zeitungsreporter, der mit seinen Recherchen der wahren Ellie Garfield auf die Spur kommen wollte, behauptete allerdings, Ellie habe das Strickzeug erst wieder zur Hand genommen, als sie erfuhr, dass sie Großmutter werden sollte. Sie hatte Babyschühchen gestrickt, Söckchen und Pullis. »Ich stricke wie ein Weltmeister«, hatte sie einer ihrer Freundinnen erzählt.
Doch in dieser Woche gab es für Ellie keinen Freitag mehr.
Und allem Anschein nach auch keine donnerstagabendlichen Einkäufe. Vom Personal des Lebensmittelladens, das Ellie Garfield immerhin vom Sehen kannte, konnte sich niemand erinnern, dass sie an diesem Abend dort gewesen war. Auch ihre Kreditkarte, ihr bevorzugtes Zahlungsmittel (sie sammelte Treuepunkte), war an diesem Abend offensichtlich nicht benutzt worden, weder in diesem Laden noch in irgendeinem anderen. Und auch sonst nicht mehr. Ihr Wagen war auf den Aufzeichnungen der Überwachungskameras auf dem Parkplatz des Lebensmittelmarkts nirgends zu sehen.
Aus all dem schloss Keisha, dass die Polizei im Dunkeln tappte. War Ellie das Opfer eines Verbrechens geworden? War sie zu ihren Besorgungen aufgebrochen, aber von jemandem davon abgehalten worden? Oder war sie womöglich aus freien Stücken verschwunden? Die Meldungen stellten nur einen Teil der Fragen, die Keisha durch den Kopf schossen. Hatte die Frau vielleicht ein Verhältnis? Hatte sie zu ihrem Geliebten gewollt? War sie an diesem Morgen aufgewacht und zu der Einsicht gekommen, dass ihre Ehe am Ende war? In den Wagen gestiegen und einfach losgefahren, Hauptsache, weg von zu Hause?
Sie wäre nicht die Erste gewesen.
Doch ein solches Verhalten sah ihr so gar nicht ähnlich. Sie war noch nie ausgebrochen, noch nicht einmal für einen halben Tag. Die Ehe schien intakt. Und da war ja auch noch das Enkelkind.
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