Frag die Toten
Ellie Garfield sollte demnächst ihr erstes bekommen. Und sie hatte ihm schon eine komplette Ausstattung gestrickt. Welche Frau verschwindet, wenn so ein Ereignis ins Haus steht?
Die Polizei zog in Betracht, dass Ellie vielleicht das Opfer eines Autoraubs geworden war, der tödlich geendet hatte. Im vergangenen Jahr hatte es drei derartige Vorfälle gegeben, bei denen Autofahrerinnen an einer roten Ampel aus ihrem Wagen gezerrt worden waren. Der Täter – man ging in allen drei Fällen von ein und demselben Täter aus – war dann mit dem geraubten Fahrzeug geflüchtet. Doch alle drei Frauen waren, zumindest körperlich, unverletzt geblieben.
Vielleicht war Ellie Garfield demselben Mann über den Weg gelaufen. Nur hatte er diesmal richtig Gewalt angewendet.
Am Sonntag war Wendell Garfield vor die Kameras getreten, seine schwangere Tochter an seiner Seite. Die junge Frau war in Tränen aufgelöst und brachte selbst kein Wort heraus, doch Wendell vermochte die Tränen immerhin lange genug zurückzuhalten, um seinen Appell loszuwerden.
»Ich will nur eines sagen, Liebes, wenn du das siehst, bitte komm wieder nach Hause. Wir haben dich lieb, und du fehlst uns, und wir wollen dich einfach nur wiederhaben. Und … und wenn dir … wenn dir jemand weh getan hat, dann appelliere ich an diese Person … ich bitte Sie, lassen Sie uns wissen, was Ellie zugestoßen ist. Bitte lassen Sie uns wissen, wo sie ist, dass es ihr gutgeht … wir wollen nur … ich … ich …«
Von Kummer überwältigt, wandte er sich von der Kamera ab.
Auch Keisha hätte beinahe eine Träne vergossen, als sie sich den Clip auf der Website des Fernsehsenders noch einmal ansah. Zeit, zur Tat zu schreiten.
Und so schlug sie, etwa eine Stunde nachdem Justin gegangen war, die Adresse der Garfields nach. Das Haus stand, etwas abseits von der Straße, in einer dicht bewaldeten Gegend auf dem Weg nach Derby. Die Grundstücke waren groß, und die Häuser standen weit voneinander entfernt, manche sogar außer Sichtweite des Nachbarhauses. Keisha wollte auskundschaften, ob das Haus von Polizeiwagen umstellt war.
In der Einfahrt stand ein uralter Buick, bestäubt mit einer dünnen Schicht Schnee, der über Nacht gefallen war. Sonst war kein Wagen zu sehen. Worauf also warten?
Sie hatte das schon so oft gemacht, dass sie sich keine Strategie mehr überlegen musste. Wie ging man mit jemandem um, der einen geliebten Menschen vermisste? In vieler Hinsicht nicht anders als mit jemandem, der seine Zukunft vorhergesagt haben wollte. Die Nahrung für Keishas Eingebungen kam von diesen Personen selbst. Üblicherweise fing sie ganz vage an: »Ich sehe ein Haus … ein weißes Haus mit einem Zaun davor …«
Die Reaktion darauf war dann zum Beispiel:. »Ein weißes Haus? Moment mal, Tante Gwen hat doch in einem weißen Haus gewohnt, oder?«
Und jemand anderes sagte: »Stimmt, ihr Haus war weiß!«
Sie registrierte, dass die Leute in der Vergangenheit sprachen, und sagte: »Diese Tante Gwen … ich spüre da etwas … sie ist nicht mehr.«
Und die Leute sagten: »Du meine Güte, ja, das stimmt!«
Aufs Zuhören kam es an, auf das Gespür für das richtige Stichwort. Den Menschen etwas zu geben, an dem sie sich festhalten konnten. Sich dahin führen zu lassen, wo sie glaubte, dass die anderen sie haben wollten.
Keisha hoffte nur, dass Wendell Garfield nicht so verstockt war wie dieser Terry Archer, der nicht zulassen wollte, dass Keisha seiner Frau Cynthia half. Das Gemeine daran war, dass sie gar nicht so falschgelegen hatte. Ehe die Archers sie aus dem Haus geworfen hatten, hatte sie ihnen gesagt, dass ihre Tochter in Gefahr war. In einem Auto. Irgendwo hoch oben.
Und war nicht genau das der Fall gewesen?
Lass gut sein, sagte sie sich. Das ist schon Jahre her.
Doch bei Wendell Garfield hatte Keisha ein besseres Gefühl. Und die Umstände waren auch ganz anders. Bei den Archers war es um eine Sache gegangen, die fünfundzwanzig Jahre zurücklag. Es bestand kein Grund zur Eile. Doch Mrs. Garfield war gerade erst verschwunden. Wenn sie in Gefahr war, dann war vielleicht noch Zeit, sie zu retten.
Vor ihrer Fahrt hierher hatte Keisha sich in ihr Schlafzimmer geschlichen, um sich ein paar Accessoires zu besorgen. Ein Minimum an Exzentrik musste sein. Das
erwartete
die Kundschaft einfach. Wenn man mit den Toten sprach oder das Versteck eines noch Lebenden vor sich sah, dann musste man schon ein bisschen schräg daherkommen. Also entschied sie sich für die
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