Frag die Toten
Abende verliefen harmonischer als andere. Dann erzählte Melissa, wie sie ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen gedachte, und ihre Eltern nickten und sprachen ihr Mut zu. An anderen Abenden ging Ellie die Resozialisierung ihrer Tochter nicht rasch genug vonstatten, und sie machte ihr Druck. Sie könne sich nicht länger als Kellnerin durchschlagen, es sei höchste Zeit, wieder zur Schule zu gehen und etwas Vernünftiges mit ihrem Leben anzufangen. Machte sich Melissa überhaupt klar, wie peinlich es für ihre Mutter als Angestellte der Schulbehörde sei, eine Schulabbrecherin zur Tochter zu haben, die nicht einmal die elfte Klasse zu Ende gebracht hatte? Wie lange sollte sie noch warten, bis ihre Tochter ihren Weg fand? Bis sie es endlich zu etwas brachte?
Dann fingen sie an zu streiten, und Melissa verließ wütend das Haus. Allerdings nicht, ohne sich vorher noch lautstark zu fragen, wie sie es in diesem Haus so lange ausgehalten habe, ohne sich eine Kugel in den Kopf zu jagen.
Nach so einem Abend dauerte es stets eine Weile, bis der Staub sich wieder legte.
Trotz dieser Ausbrüche waren Ellie und Wendell einigermaßen zuversichtlich, dass Melissa endlich erwachsen wurde. Sie behielt ihren Job als Kellnerin. Sie legte Geld beiseite, hauptsächlich Trinkgeld. Fünfzig, sechzig Dollar die Woche, immerhin etwas. Und eines Tages erwähnte Melissa während eines Telefonats mit ihrer Mutter beiläufig, dass sie sich auf der Website eines College schlaugemacht hatte, welche Qualifikationen man für ein Studium der Veterinärmedizin mitbringen musste.
Ellie war außer sich vor Freude, als sie es Wendell erzählte.
»Ist das nicht wunderbar?«, fragte sie. »Sie wird erwachsen. Sie wird wirklich erwachsen und macht sich Gedanken über ihre Zukunft.«
Womit weder Ellie noch Wendell gerechnet hatten, war, dass zu dieser Zukunft sehr bald ein Baby gehören würde.
Melissa war schon im dritten Monat, als sie es ihren Eltern beibrachte. Deren Begeisterung hielt sich, gelinde gesagt, in Grenzen. Doch Wendell suchte auch hier nach einem Hoffnungsschimmer. Vielleicht hieß das ja, dass Melissa heiraten würde? Sie war zwar noch sehr jung, um Mutter zu werden, doch wenn es einen Mann in ihrem Leben gäbe, einen Versorger, das wäre doch zumindest eine große Entlastung für Ellie und ihn, oder?
Der Mann hieß Lester Cody und war dreißig. Ein Stammkunde von Melissa. Er bestellte immer vier frisbeescheibengroße Pfannkuchen mit Schokostückchen und einer doppelten Portion Sirup. Dazu Würstchen. Alles in allem schlappe 1400 Kalorien. (Melissa wunderte sich längst nicht mehr, wie viele Leute so etwas zu Mittag aßen.) Lester war, wen wundert’s?, ein wenig beleibter als der Durchschnittsmann. Fast einhundertdreißig Kilogramm brachte er auf die Waage. Die gute Nachricht war: Er war Zahnarzt. Hatte seine eigene Praxis. Fuhr einen Lexus. Kassierte hunderttausend im Jahr. Und – das war das Allerbeste – war unverheiratet.
Ellie war hin- und hergerissen. Einmal war sie der Meinung, ihre Tochter ruiniere sich ihr Leben, wenn sie so früh ein Kind bekam. Doch schon am nächsten Tag gestand sie Wendell, wie sehr sie sich darauf freue, Großmutter zu werden. »In meinem Alter, das glaubt mir keiner!« Lang und breit diskutierte sie mit ihrem Mann darüber, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde, bis er mürrisch sagte: »Eins von beiden wird’s wohl werden.« Dann ritt sie wieder darauf herum, dass Lester Cody eigentlich zu alt für Melissa war. Andererseits hatte er einen einträglichen Beruf und konnte für ihr Mädchen und ihr Enkelkind sorgen. Schließlich ließ Melissa die Bombe platzen. Sie hege keinerlei Gefühle für Lester, er sei zwar nett und alles, aber als Frau eines Zahnarztes habe sie sich nie gesehen. Sie habe einen anderen Mann kennengelernt, er arbeite in einer Bäckerei im Einkaufszentrum, sei wirklich süß und nicht so dick wie Lester, obwohl er so viele Zuckerschnecken in sich hineinstopfen könne, wie er wolle. Ellie redete sich den Mund fusselig, um Melissa zur Vernunft zu bringen. Wenn Lester Cody sich für sie interessierte und für sie sorgen konnte, dann sei sie nicht mehr zu retten, wenn sie diese Beziehung in die Brüche gehen ließe. Denn eines stand wohl fest: Wenn sie tatsächlich Tierärztin werden wollte, musste sie erst einmal ihren Schulabschluss machen. Und wie lange würde das wohl dauern? Lester hatte die Praxis, und da konnte sie bestimmt Teilzeit arbeiten, wenn das Baby
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