Frag die Toten
ihren Hals und den Gürtel zu bekommen. Doch sie war nicht schnell genug. Wendell Garfield schlang ihn ihr eng um den Hals und fing an zu drehen.
»Mir schleierhaft, woher Sie es wissen, aber Sie werden es jedenfalls nicht weitererzählen«, sagte er.
Keisha umkrallte den Gürtel mit den Fingern. Ihre Nägel bohrten sich in ihr eigenes Fleisch bei dem Versuch, die Schlinge zu lockern. Doch das Satinband schnitt schon tief in ihren Hals ein, und es gab keine Hoffnung mehr, die Finger dazwischenzubekommen.
Garfield beugte sich über sie, sein Mund war ganz nahe an ihrem rechten Ohr. Sie spürte seinen heißen Atem an ihrer Wange.
Sie bemühte sich, etwas zu sagen, zu schreien, doch der Gürtel drückte ihr die Luftröhre zu, und sie brachte keinen Ton heraus. Sie spürte, wie ihr die Augen aus den Höhlen quollen. Sie strampelte mit den Beinen, bohrte ihre Absätze in den Teppich.
In diesem Augenblick wusste Keisha Ceylon, dass sie sterben würde. Und sie brauchte keine übersinnlichen Fähigkeiten für diese Vision der Zukunft.
Einer nicht allzu
fernen
Zukunft.
In diesen Millisekunden gingen ihr viele Gedanken durch den Kopf. So viel Zeit für eine Innenschau. Wer hätte das gedacht? Doch in solchen Momenten dreht die Welt sich auf einmal viel langsamer, und Keisha hatte Gelegenheit zu denken:
Geschieht mir vielleicht recht.
Wenn man davon lebte, die Notlage anderer Menschen auszunutzen, war es da nicht unausweichlich, dass irgendwann der Tag der Abrechnung kam? Wenn es jemanden gab, der an Karma glaubte, dann doch wohl Keisha?
Der Englischlehrer Terry Archer hätte bestimmt seine Freude, wenn er sie jetzt sehen könnte. Ihre missliche Lage wäre das ideale Lehrbeispiel, um seinen Schülern den Begriff der Ironie nahezubringen. Als es um sie selbst ging, zeigte sich, dass es mit Keishas Hellsicht nicht sehr weit her war. Sie war sehenden Auges in ihr Verderben gelaufen.
Es war buchstäblich zum Totlachen.
Zum Lachen war ihr allerdings nicht. Sie empfand etwas ganz anderes. Reue. Hätte sie sprechen können, hätte sie auch nur ein wenig Luft bekommen, hätte sie vielleicht gesagt: »Es tut mir leid.«
Es gab etliche Menschen, die es verdient hätten, dass sie sich bei ihnen entschuldigte. Doch das Gesicht, das ihr als Erstes vor Augen kam, war das von Matthew.
»Verzeih mir, Liebling«, hörte sie sich sagen. »Verzeih, Mommy hat Scheiße gebaut.«
All diese Gedanken feuerten im Bruchteil einer Sekunde durch ihre Synapsen. Sie hätte sogar gerne noch länger überlegt, was für eine Auswirkung ihre Verfehlungen auf sie selbst und andere gehabt hatten, hätte ihr Gewissen gerne noch intensiver erforscht, doch es gab ein Areal ihres Gehirns, das sich mit dringlicheren Entscheidungen befasste.
Im Moment sieht es zwar ziemlich schlecht aus, aber irgendwie muss ich hier raus.
Und aus diesem Grunde krallte sie ihre Nägel noch immer in ihren Hals in dem Versuch, ihre Finger unter den Gürtel des Morgenmantels zu schieben. Doch vergeblich.
»Sie müssen da gewesen sein«, sagte Garfield mit zusammengebissenen Zähnen. »Sie müssen zugesehen haben. Anders kann ich es mir nicht erklären. Sie waren da oben, haben gesehen, wie ich mit dem Wagen aufs Eis fuhr, haben ihn untergehen sehen, und dann dachten Sie, Sie könnten mich erpressen. Einen Tausender heute, einen nächste Woche, übernächste Woche noch einen, so lange, bis ich nichts mehr habe.«
Er hatte sich die Enden des Gürtels mehrmals um die Hände gewickelt und hörte nicht auf zu ziehen. Keisha spürte, dass sie jeden Moment das Bewusstsein verlieren würde. Ihre Finger erlahmten. Ihre Hände sanken herunter und landeten neben ihren Schenkeln auf dem Sitzkissen. Was er wohl mit ihrer Leiche machen würde?, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hoffte, er würde sie nicht zu Mrs. Garfield in den See schaffen.
Sie war kein Fan von Wasser. Als sie zehn war, war ihre Mutter kurz mit einem Mann zusammen gewesen, der ein Haus in Cape Cod hatte. Keisha steckte nie auch nur eine Zehenspitze in den Atlantik. Sie hatte Angst vor Haien. Das kam von diesem Film. Keine zehn Pferde hätten sie ins Wasser gebracht. Zum Glück fuhren sie nie wieder da hin, denn der Mann kehrte zu seiner Frau zurück.
Keisha spürte, dass sie jeden Moment das Bewusstsein verlieren würde. Gleichzeitig bohrten ihre Finger sich in das Kissen, auf dem sie saß.
Ihre rechte Hand berührte etwas.
Etwas Weiches, Flauschiges.
Wolle.
Ihre Finger gruben sich in die Wolle. Da spürte sie
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