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Frag die Toten

Frag die Toten

Titel: Frag die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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noch etwas. Es war dünn … und lang … und spitz. Wie ein Stäbchen. Oder eine Nadel.
    Eine Stricknadel.
    In allerletzter Sekunde, ehe ihr schwarz vor Augen wurde, packte Keisha die Stricknadel, riss den rechten Arm hoch und über die Schulter nach hinten. Mit allerletzter Kraft.
    Der Schrei war keine fünf Zentimeter von ihrem Ohr entfernt. Und er war grauenhaft.
    Der Würgegriff um ihren Hals lockerte sich, und Keisha taumelte aus dem Sessel. Sie fiel zu Boden und rang nach Luft. Sie lag auf den Knien, eine Hand auf dem Boden, um sich abzustützen, die andere an ihrem Hals. Die Luft strömte ihr so rasch in die Lunge, dass es weh tat. Sie keuchte. So laut, dass man es überall im Haus hätte hören können, wären Wendell Garfields Schmerzensschreie nicht noch viel lauter gewesen.
    Noch immer nach Atem ringend, drehte Keisha sich um. Sie wollte sehen, was sie getan hatte.
    Die Stricknadel steckte mitten in Garfields rechtem Auge. Blut lief ihm aus der Augenhöhle und bedeckte seine rechte Gesichtshälfte. Aus dem, was von der Nadel noch zu sehen war, schloss Keisha, dass etwa fünfzehn Zentimeter davon in Garfields Kopf stecken mussten.
    Doch mit dem linken Auge konnte er sie noch sehen. Schreiend umrundete er den Sessel, auf dem Keisha eben noch gesessen hatte, um sich wieder auf sie zu stürzen.
    Keisha kam mühsam auf die Beine und steuerte auf die Tür zu, stieß sich dabei jedoch das Knie an einer Ecke des Couchtisches und stolperte. Das reichte Garfield, um sie einzuholen. Er packte sie am Arm.
    »Miststück!«, sagte Garfield. Es klang wie ein Gurgeln, so viel Blut war ihm bereits in die Kehle gelaufen.
    Er riss so heftig an Keishas Arm, dass sie wieder zu Boden ging. Sie landete auf dem Rücken. Ehe sie sich zur Seite drehen konnte, kniete er schon über ihr.
    Den Gürtel hatte er nicht mehr, er würde sie mit bloßen Händen erwürgen. Er beugte sich vor. Die Stricknadel ragte noch immer aus seiner Augenhöhle, Blut tropfte – nein, strömte – auf Keisha herab. Er umklammerte mit beiden Händen ihren Hals. Sie schlug wild um sich, doch er hielt sie auf dem Boden fest.
    Wieder wurde ihr schwarz vor Augen. Mit letzter Kraft drosch sie ihren Handballen auf das untere Ende der Stricknadel.
    Rammte ihm den Plastikspeer noch zehn Zentimeter tiefer in den Kopf.
    Noch ein Schrei, dann erstarrte er für einen Augenblick über ihr. Sein Griff um ihren Hals lockerte sich, seine Arme wurden schlaff. Dann fiel er auf sie.
    Diesmal nahm Keisha sich erst gar keine Zeit zum Luftholen. Von Panik erfüllt, drückte und schubste sie, bis sie sich von Garfields Körper befreit hatte, und kroch auf allen vieren davon. Einige Meter von ihm entfernt wartete sie, bis sie wieder richtig atmen konnte. Dann gönnte sie sich den Luxus eines hysterischen Anfalls.

[home]
    Sechzehn
    S ie sind sicher, dass Sie keinen Anwalt wollen?«, fragte Rona Wedmore.
    »Ganz sicher«, sagte Melissa Garfield. »Ich bekenne mich schuldig. An allem.« Wie ein Kind, das verkündet, es habe brav sein ganzes Gemüse aufgegessen.
    »Dann müssen Sie hier unterschreiben. Und hier.«
    Melissa kritzelte ihre Unterschrift auf das Papier.
    »Also gut, dann erzählen Sie jetzt von Anfang an.«
    »Sie müssen wissen«, sagte Melissa, »dass meine Mom beschlossen hatte, vor dem Einkaufen noch bei mir vorbeizuschauen. Das hat sie gelegentlich gemacht. Sie kam vorbei, ohne vorher anzurufen oder so. Sie hat dann immer gesagt: ›Was denn? Kann eine Mutter nicht auf einen Sprung bei ihrer Tochter hereinschauen?‹ Sie kommt also rein, und ich bin gerade in der Küche und schneide mir Sellerie und Karotten für einen Salat, weil ich mich bemühe, das Richtige zu essen, damit das Baby gesund ist, wissen Sie, obwohl ich lieber Pizza und Hamburger essen würde, aber ich
bemühe
mich, verstehen Sie? Ich bemühe mich wirklich.«
    »Aber natürlich«, sagte Wedmore.
    »Ich hatte irgendwie ständig das Gefühl, dass sie mich kontrolliert. Sie hat mir dauernd Fragen gestellt: Was mit Lester ist, ob ich ihn heirate, damit er sich um uns kümmern kann, oder ob ich wieder zu ihnen ziehe, zu ihr und Dad, als ob ich das überhaupt gewollt hätte. Dann wollte sie wissen, ob ich mich schon genauer über die Uni informiert habe, wo ich Veterinärmedizin studieren will, weil ich doch Tiere so gern mag, besonders Hunde und Katzen.«
    »Ich mag Hunde und Katzen auch gern«, sagte Wedmore.
    »Ja. Das will sie also wissen, und ich sage, noch nicht, aber ich werde es schon noch tun,

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