Fragmente des Wahns
ihren glatten, braunen Haaren. Leonie drehte sie gerne um ihre Finger. Alex hatte das nie verstanden. Kaum hatte er sich zu ihr gedreht, sah sie ihn auch schon mit ihren braunen Augen an. Das rechte Auge hatte sogar eine Besonderheit. Sie bestand aus einem grauen Punkt oberhalb der Iris. Sandra nannte sie eine Engelsträne.
Leonie hatte einmal gefragt, warum sie „Dreck“ im Auge hatte. Sandra hatte ihr erklärt, dass dies kein Schmutz war, sondern eine Engelsträne.
„Was das?“, hatte Leonie gefragt.
„Nun, Liebes“, fing Sandra an, „an dem Tag, als du geboren wurdest, kam dein persönlicher Schutzengel vom höchsten aller Himmel hinabgestiegen, nur um dich zu sehen. Und weißt du, als er dich sah, war er so überwältigt, dass er eine einzelne Träne vergoss, die seither dein Auge ziert.“
Von da an liebte Leonie ihre Engelsträne und präsentierte sie stolz allen, denen sie in ihrem Leben begegnete. Sandra hatte schon immer diese Wirkung auf Kinder gehabt. Es war fast so, als würden sie in ihr ein großes Kind sehen.
„Heute war super, Papa. Vor allem Riesenrad!“
Leonie machte eine ausladende Geste und Alex musste laut lachen. Sandra stimmte mit ein, und ihr Lachen ließ Alex dahinschmelzen. Diese Familie war alles für ihn geworden.
„War es also schön im Vergnügungspark?“, fragte Alex.
„Ja!“, brüllte Leonie.
„Dann müssen wir Papa ganz doll überreden, dass er noch einmal einen so schönen Ausflug mit uns macht. Oder?“
„Ja!“, schrie Leonie erneut.
Alles wirkte so unbeschwert, ruhig und richtig. Es gab nichts, worüber er sich Gedanken machen musste. Nichts, was ihn aus der Fassung brachte oder Kopfzerbrechen bereitete. Alles war einfach perfekt. Er führte ein unglaublich glückliches und unbeschwertes Leben, dass es fast schon zuschön war , um real zu sein.
„Worüber denkst du nach?“, fragte Sandra.
Leonie war bereits auf dem Rücksitz eingeschlafen. Worüber sie wohl träumte? Wie unbeschwert Kinderträume wohl sein mochten?
„Eigentlich nichts.“
„Über unser Leben?“
„Ein wenig.“
„Bist du denn glücklich?“
„Ja. Es ist nur, irgendwie habe ich gerade ein komisches Gefühl. Ich weiß auch nicht. Bist du denn glücklich?“
„Wie könnte ich nicht?“
„Ich meine, du bist schließlich mit mir zusammen“, scherzte Alex.
„Stimmt, hatte ich ja ganz vergessen.“
Sie lachten.
„Weißt du, was ich mache, wenn ich Bedenken über mein Leben oder die Zukunft habe?“
„Nein. Machst du dir denn oft darüber Gedanken?“
„Manchmal … nicht oft. Aber wenn, dann stelle ich mir mein Leben ohne euch vor.“
„Findest du das nicht etwas makaber?“
„Vielleicht. Doch es hilft. Denn wenn ich mir ein Leben ohne euch vorstelle, dann fühle ich nur diesen unglaublich unerträglichen Schmerz, der mich zu zerreißen droht. Dann weiß ich, dass ich mein Leben liebe. Ich glaube, einen besseren Beweis dafür, dass man glücklich ist, gibt es nicht. Oder?“
„Nein, ich denke nicht.“
Sandra lachte sehr oft. Ihr Lachen war etwas, dass Alex nicht vergessen wollte. Es erwärmte sein Herz von innen heraus, wie nichts anderes es auf der Welt konnte.
„Am Ende geht es nur um uns, Alex. Vergiss das nie.“
„Wie … wie meinst du das?“
Sie lächelte.
Sie lächelte bis zum Schluss.
Dann folgte der Knall … und mit ihm der Schmerz.
Alex hatte nicht mitbekommen, wie alles passiert war, doch das Resultat war nicht zu übersehen. Überall um ihn herum zersplittertes Glas. Scherben flogen durch die Luft, zerrissen Haut und offenbarten Blut.
Sein erster Blick fiel auf Sandra. Ihr Kopf war nach vorne geschleudert worden. Das lange Haar verhüllte ihr Gesicht. Sie sah aus wie eine leblose Puppe. Er sah die wenigen Schnittwunden und das Blut, das daraus hervortrat.
Dann wurde es kurz schwarz.
Er kehrte zurück.
Nun sah er Leonie, die aus dem Schlaf gerissen wurde. Sie schrie. Sie hörte nicht auf. Es brachte Alex Herz zum Bluten. Er fühlte ihre Angst und ihren Schmerz, als wären es die seinen. Er wollte nur noch schreien.
Dann spürte er seine eigenen Qualen.
Etwas hatte sich in seinen Unterleib gebohrt. Er spürte es deutlich, doch er traute sich nicht, einen Blick zu riskieren. Zu groß war die Angst vor dem, was er erblicken konnte. Alex wollte sich wieder auf seine Freundin und seine Tochter konzentrieren. Doch es ging nicht.
Alles um ihn herum verschwamm. Sandra entfernte sich von ihm. Leonie war nicht mehr zu sehen. Der Wagen
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