Fragmente des Wahns
Russe hatte nicht gelogen. Zwölf Minuten später hatten sie die Wilderstraße erreicht. Alex konnte das Haus jedoch nicht erkennen. Er sah auf die Uhr. 13.07. Der halbe Tag war bereits vergangen.
„12,80 Euro, bitte.“
Alex kramte seine Geldbörse heraus und gab dem Russen fünfzehn Euro. „Danke, das passt schon so.“ Dann stieg er aus und Andreas folgte ihm.
Das Taxi rauschte an ihnen vorbei, während Alex nach den Hausnummern Ausschau hielt.
„Schon gefunden?“, wollte Andreas wissen.
„Nein“, musste Alex leider zugeben. Doch er gab nicht auf, ging die Straße in linker Richtung entlang und versuchte, eine der Hausnummern zu erkennen. Dann fand er die Nummer Fünf.
„Hier entlang, Andreas. Das nächste Haus muss es sein.“
Er wartete nicht ab, sondern lief los. Alex musste Gewissheit haben. Er musste es sehen. Noch drei Schritte. Zwei. Einer. Und dann stand er davor.
Andreas erreichte seinen Bruder, der wie angewurzelt dastand und das Haus betrachtete.
„Ich kenne dieses Gartentor. Es ist genau wie in meiner Halluzination.“
Seine Füße bewegten sich wie von selbst. Andreas folgte ihm. Alex rechte Hand berührte das Gartentor und schob es auf. Es war ohne Zweifel derselbe Garten. Einige Blumen waren anders, Bäume fehlten oder hatten sich verändert, doch es war sein Garten.
Sein Blick wanderte zum Haus. Das kleine Einfamilienhaus mit der schwarzen Sieben an der rechten oberen Ecke. Darunter befand sich das weiße Wilderstraßenschild. Vieles sah gleich aus. Es kam ihm vor, als wäre er erneut in seiner Halluzination gefangen. War er das vielleicht sogar?
„Andreas?“
„Ja?“
„Siehst du auch ein Einfamilienhaus mit einer schwarzen Hausnummer, einem gepflegten Garten mit rotlackierter Schaukel?“
„Ja, wieso?“
„Ich wollte nur sichergehen, dass ich nicht wieder träume. Es ist das Haus, Andreas. Ich bin nicht verrückt, ich wusste es!“
„Wollen wir klingeln?“
„Ja. Ich muss es wissen. Ich will erfahren, wer diese ominöse Frau ist und was sie mit mir zu tun hat.“
„Okay.“
Wenige Schritte trennten die beiden von der Eingangstür. Sie kam Alex sehr vertraut und richtig vor, aber auch unheimlich und angenehm zugleich. Er klingelte. Dabei betrachtete er den handgeschriebenen Namen auf dem weißen Schriftband. „Fliesenleger“.
Nein, diesen Namen hatte er nicht in seiner Halluzination gelesen. Es war ein anderer Name gewesen. Es war sein Name gewesen!
Doch es blieb ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Moment, auf den er so lange gewartet hatte, war endlich gekommen. Die Haustür schwang auf und die Frau stand auf der Schwelle. Doch …
„Sie … Sie sind es nicht.“
„Wie bitte?“, fragte die Frau mittleren Alters verwundert.
Sie hatte blondes, zerzaustes Haar, etliche Falten im Gesicht und wirkte allgemein etwas ungepflegt und mitgenommen. Dennoch hatte sie eine Art an sich, die sie sympathisch machte.
Als Alex nicht mehr reagierte, griff Andreas ein.
„Tut mir leid. Darf ich mich kurz vorstellen? Mein Name ist Andreas und das ist mein Bruder Alex. Wir haben gerade Ihr Haus entdeckt und waren sofort hin und weg. Es steht nicht zufällig zum Verkauf?“
„Ähm … nein.“ Die Frau fühlte sich sichtlich unwohl. „Tut mir leid.“
„Schon in Ordnung.“ Andreas lächelte sie an, um ihr Vertrauen zu gewinnen.
Doch Alex setzte scheinbar alles daran, dieses wieder zu zerstören. „Wie lange wohnen Sie schon hier? Gibt es hier eine Frau mit langen, schwarzen Haaren?“
„Ich verstehe nicht.“ Sie fühlte sich bedrängt. „Wer waren Sie noch gleich?“
„Bitte, ich muss das wissen. Ich muss diese Frau finden. Bitte sagen Sie mir endlich, was Sie mit mir angestellt haben.“
Alex wirkte hysterisch und die Frau bekam es verständlicherweise mit der Angst zu tun. Andreas sah keine Chance mehr, die Situation zu retten.
„Bitte … bitte verlassen Sie mein Grundstück“, fing die Frau an, „oder ich rufe die Polizei.“
„Nein, nein“, erwiderte Andreas und hob dabei beschwichtigend seine Hände. „Wir gehen schon. Es tut mir wirklich leid, Sie gestört zu haben.“
„Aber nein, ich muss sie finden. Was haben Sie mit ihr gemacht?! Was haben Sie mit mir gemacht?!“
„Alex!“, Andreas packte seinen großen Bruder und zog ihn von der Haustür fort. „Es tut mir wirklich leid“, sagte er noch einmal zur Hausbesitzerin. Dann zog er Alex endgültig zurück auf den Bürgersteig.
„Was soll das?!“, protestierte Alex.
„Nein,
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