Fragmente des Wahns
die Hose hoch, wandte sich um und verschwand durch das offen stehende Küchenfenster.
Und Alex stand einfach nur da. Er starrte auf seine leblose Frau, wie sie dalag, zerstört von einem Monster, das er nicht hatte aufhalten können.
Ja, er wollte schreien … doch er konnte nicht.
Er war bereits tot.
Samstag, 24. Juli 2011
6.08 Uhr, Auftakt des Grauens
Ein markerschütternder Schrei durchfuhr seinen Körper und entschwand in die Freiheit. Er hörte nicht auf. Er konnte nicht. Er musste erst erwachen, doch er konnte nicht. Er musste sie retten, doch er konnte nicht. Bis seine Frau ihn wachrüttelte.
„Alex, Schatz … bitte, wach auf. Bitte wach doch auf.“
Lisa redete immer wieder auf ihn ein und schüttelte dabei seinen Oberkörper.
Seine Augen kehrten in die Realität zurück. Der Reflex verlor seine Wirkung und somit endete auch sein Schrei. Alex sah nur noch das Gesicht seiner geliebten Frau, das Furcht in sich trug.
„Ich kann einfach nicht aufhören“, sagte er mit wimmernder Stimme.
„Was ist denn los, Schatz?“
„Ich kann einfach nicht aufhören zu weinen.“
Erst jetzt erkannte Lisa die getrockneten und frischen Tränen im Gesicht ihres Mannes. Sie fühlte seinen Schmerz, als wäre es ihr eigener und doch war sie unfähig, etwas zu unternehmen.
Auch sie fing an, Tränen zu vergießen.
Er saß am Bettrand und hielt seinen Kopf mit den Händen umschlossen. Noch immer liefen einzelne Tränen über seine geröteten Wangen. Dennoch hatte er das Gefühl, dass es besser wurde, zumindest ein wenig.
Lisa tauchte mit Taschentüchern neben ihrem Mann auf und setzte sich neben ihn.
„Geht es wieder?“
„Ich denke schon, ja.“ Alex nahm sich eines der Taschentücher. „Danke.“
„Kein Problem. Willst du darüber reden?“
„Ja.“
Lisa überraschte diese Antwort mehr als sie zugeben wollte. Seit diese Vorfälle angefangen haben, hatte sich Alex von ihr abgewandt und ihr nichts mehr mitgeteilt. Langsam hatte Lisa tatsächlich das Gefühl, ihren „alten“ Mann zurückzuhaben.
„Was ist denn passiert?“
„Ich habe geträumt. Es war ein Alptraum! Doch in Wirklichkeit war es eine Erinnerung, denn ich habe von ihnen geträumt, Lisa. Ich habe von diesem Tag geträumt, und wie ich sie gefunden habe.“
„Oh mein Gott.“
„Weißt du, Lisa, als ich bei Doktor Niederseher im Behandlungszimmer saß und Andreas über meine erste Familie erzählt hat, da empfand ich das alles zwar als schlimm, aber nicht, weil sie mir leidtaten, sondern weil ich mich nicht an sie erinnern konnte. Verstehst du, was ich meine?“
„Ich glaube, niemand kann verstehen, was du durchgemacht hast, Schatz.“
„Schon, nur wie gesagt, ich habe einfach nichts empfinden können. Als Andreas mir sagte, dass meine erste Familie gestorben sei, da war das für mich nicht wirklich wichtig, da ich sie ja nicht kannte. Und als er mir dann berichtete, dass sie ermordet wurden, da konnte ich wieder nichts empfinden. Ich meine, Sandra und Leonie waren nur Namen für mich, nichts weiter. Ich empfand ihr Schicksal als traurig und furchtbar, doch mein Herz reagierte nicht darauf.“
„Aber das ist doch auch verständlich, Alex. Niemand macht dir deswegen Vorwürfe.“
„Darum geht es doch nicht, Lisa“, erwiderte Alex und sah zum ersten Mal voller Trauer in das Gesicht seiner geliebten Frau. „Es geht darum, dass ich jetzt etwas fühle und dass ich verstehe !“
Erneut liefen Tränen über sein mitgenommenes Gesicht. Lisa nahm ihn in die Arme und Alex verkroch sich schützend in ihre Brust, ehe er fortfuhr.
„Weißt du, Lisa, ich habe dieses Ereignis nicht nur geträumt. Es waren nicht nur grauenvolle Bilder. Ich habe es gespürt . Ich habe meine alten Gefühle tief in mir wahrgenommen. Sämtliche Liebe, sämtlicher Schmerz. Das ganze Leid.“
„Schon gut, Schatz. Jetzt ist alles wieder gut, du bist wach.“
„Nein, Lisa, nichts ist in Ordnung. Ich glaube, ich kann jetzt ein klein wenig verstehen, warum ich das gemacht habe.“
Er sah auf. Seine Augen trafen auf die seiner Frau.
„Ich verstehe nun, warum ich vergessen wollte. Ich habe gespürt, wie ich gestorben bin. Ich bin an diesem Tag gestorben, Lisa.“
„Und doch bist du jetzt am Leben und nur das zählt“, sagte Lisa mit fester und überzeugter Stimme. „Natürlich ist es grausam, was dir und deiner Familie widerfahren ist, doch du hast eine neue Familie, Alex. Du hast Lilli und mich. Reichen wir nicht für ein neues Leben?“
„Doch …
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