Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
Angst vor Höhlen voll schwarzem Wasser haben sollte; doch meine bisherigen Erfahrungen hatten mich auf genau diese Situation vorbereitet. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass ich einen Weg ins Freie finden würde, und ich befürchtete ebenso wenig, dass ich zu lange unter Wasser bleiben würde. Schließlich hatte ich während meiner Zeit auf Aztlan ein verflucht kompliziertes Labyrinth überlebt, und zwar nicht nur einmal, sondern dreimal. Dies hier war für mich ein Kinderspiel.
Ein kaltes Kinderspiel. Ich nieste wieder und spürte, wie die Brustwarzen kieselhart gegen mein Kleid drückten, so kühl wehte es von unten herauf. Meine Hände zitterten so, dass ich kaum die Seile bedienen konnte. Stimmen, die des Wachsoldaten und jene der Frauen, hallten zu mir herab. Jetzt oder nie.
Die Frauen hatten mir versichert, ich würde nur ein paar Sekunden lang untertauchen, da der Brunnen im Grunde eher ein Teich sei. Wenn ich es dorthin geschafft hatte, würde ich ins Freie schwimmen können - was auch den Verweis auf die »Lahmen« erklärte, da man sich im Wasser fortbewegen konnte, ohne die Beine zu bewegen. Wenn ich der Strömung folgte, würde ich irgendwo außerhalb der Stadt landen, wo einer von Yoavs Einsatztrupps auf mich warten sollte.
Falls man sich auf die Worte der Frauen verlassen konnte.
Was soll’s, dachte ich und löste meinen Griff um das Seil.
Der Flachs schürfte mir die Handflächen auf, während ich auf das Wasser zusauste. Sofort drang die eisige Kälte durch meine Kleider. Ich pfiff durch die Zähne, als ich sie erst an meinen Beinen und dann an meinem Bauch spürte. Ich holte ein letztes Mal tief Luft, dann tauchte ich in die nasse Dunkelheit ein.
Indem ich mich von einem angeborenen Richtungssinn und vor allem der Strömung des Wassers leiten ließ, gelangte ich schnell zu dem Abfluss unten im Brunnen. Alles verlief ganz nach Plan - ich machte mich steif wie ein Stück Holz, das nach draußen getrieben wurde -, als ich plötzlich stecken blieb.
Ich hielt den Atem an; ich steckte unter Wasser in einer Stromschnelle und klemmte dabei fest wie ein Korken. Der Fels schnitt mir in die Schultern und riss an meinen Brüsten. Von echter Angst gepackt, begann ich zu kämpfen. Ich kam weder vor noch zurück; meine Ohren schmerzten, weil das Wasser von oben auf mich herabdrückte.
O Gott, o Gott. Der Drang zu niesen wurde immer stärker; meine Lunge drohte zu platzen. Ich spürte, dass meine Beine unter mir in der Luft baumelten, während sich hinter mir immer mehr Wasser aufstaute. Ich konnte nichts sehen und fragte mich einen Moment lang, ob damit wohl alles aus war. Hatte meine Eitelkeit mich das Leben gekostet oder hatten mich die Frauen in einen Hinterhalt gelockt?
Meine Nase juckte, und ich holte automatisch Luft, wobei ich noch mehr Wasser schluckte. Und so kräftig nieste, dass mein Körper sich losriss.
Wie ein Stein knallte ich in den Kanal unter mir, zum Glück dämpften die aufgestauten Wassermassen meinen Aufprall.
Einen Moment lang schloss sich das Wasser über meinem Kopf, dann kam ich auf die Beine. Blaufleckig zwar, aber in hüfthohem Wasser.
In absoluter Dunkelheit legte ich etwa hundert Schritte zurück, wobei ich nichts hörte außer dem Platschen meiner Schritte, mit denen ich dem Wasserlauf behutsam bergab folg-te. Dann wurde ich langsamer, denn ich merkte, dass der Gang weiter wurde. Vielleicht stand draußen ja ein Wachposten. Ich spürte nichts dergleichen, aber ich war vorsichtig.
Plötzlich machte der Tunnel eine Biegung und fiel gleichzeitig nach unten ab. Mit der mir eigenen Grazie stolperte ich, glitt aus und klatschte in einen Tümpel im Sonnenlicht. Prustend tauchte ich wieder auf und wurde umgehend von dem Anblick einiger am Rand des Teiches aufgereihter, zugedeckter Leichen ernüchtert.
Einer der Giborim - Abishi, glaube ich - hieß mich willkommen und zog mich aus dem Wasser. Er legte einen Umhang über meine Schultern. »Was ist mit diesen Männern passiert?«, fragte ich, während ich mein Gesicht abtrocknete.
»Es sind Yoavs Spione. Sie wurden erwischt und mussten mit den Wachen der Jebusi kämpfen.« Abishi wandte den Blick ab, und mir fiel auf, dass er geweint hatte. »Möchtest du sie anschauen?«
Ich zögerte kurz, doch ich wollte sie nicht sehen. Ich wollte nicht die wenigen Gesichter, die ich mit lebendigen, lachenden Soldaten assoziierte, an einigen blutbesudelten Leichen neben einem Wasserlauf wieder sehen. Hatte auch nur einer von unseren
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