Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
herausgezogen. So hatte man es mir jedenfalls erklärt.
Als der Shofar erklang, verstummte die Menge wie ein Mann. Langsam wurde das Tor von bartlosen Lewim-Knaben aufgeschoben. Die Menschen hielten die Luft an. Shana zufolge, die mich trotz meines Status als Freigelassene immer noch für eine ignorante Pelesti hielt, hatte seit zwanzig Jahren niemand mehr dieses Totem der Stämme zu Gesicht bekommen. Selbst N’tan als Tzadik hatte nur ein einziges Mal einen kurzen Blick darauf geworfen.
Während dieser zwanzig Jahre waren Gerüchte und Legenden um den Gnadenthron gewuchert. Er hätte Seuchen ausgelöst, andere Götter bekämpft, die Elohim darauf würden darstellen, was Shaday für sein Volk empfand.
Wie das möglich sein sollte, war mir unerfindlich.
Neugierig und erwartungsvoll reckten die Menschen die Hälse. Dies war ihr Totem. Sie wollten es sehen, sie wollten feststellen, ob der Zauber noch wirkte, ob die Geschichten wahr waren. Es wäre eine einzigartige Waffe. Um mich herum flogen Wortwechsel hin und her, und dann wurde der Wagen herausgerollt.
Der Thron bestand aus einer rechteckigen Goldkiste. Darauf standen zwei geflügelte Wesen, Elohim, die einander unter den gemeinsam aufgespannten Flügeln umarmten. Vorgeblich thronte Gott persönlich zwischen den Elohim. Die Sonne gleißte auf der Abdeckung, jenem Fleck, an dem Shaday sich befand, wenn er bei seinem Volk war.
Ich blinzelte geblendet. War ich plötzlich in einem Monumentalfilm gelandet?
Der goldbeschlagene Karren wurde in majestätischem Trott von zwei weißen, zur Feier des Tages mit Blumengirlanden behangenen Ochsen gezogen. Allmählich überwand die Menge den ersten Schock, und der Lärmpegel stieg exponentiell an.
Der Be’ma-Thron, der Thron der Gnade. Nur dass ich ihn unter einem anderen Namen kannte, jenem berühmten Namen, unter dem er verloren gegangen war und unter dem er in unzähligen Romanen wieder ausgegraben wurde: als Bundeslade.
Wie hätte jemand zwischen den Elohim sitzen können? Sie waren zu eng, um - ich zog die Stirn in Falten und sah mir die goldenen Statuen genauer an. Hatten sie sich nicht umarmt? Jetzt standen sie einander gegenüber, eine männliche und eine weibliche Figur, und hielten sich an den Händen.
Ich hätte schwören können -
Die Ochsen trotteten weiter, und die Bundeslade schaukelte auf der Fläche des Karrens hin und her. Ich runzelte die Stirn; musste die Bundeslade nicht auf Stangen getragen werden? »Was ist da drin?«, fragte ich laut.
»Den Tzadikim zufolge«, antwortete der Mann neben mir, »liegen darin die Tafeln mit den Zehn Geboten. Die von Shadays Hand beschriebenen Tafeln. #aMoshe hat sie zu Boden geschleudert -«
»Du weißt, dass er wütend war«, ergänzte jemand anderes. »Aber woher hätten sie es wissen sollen? Unsere Ahnen hatten jahrhundertelang als Sklaven gelebt.«
»Unsere Vorfahren haben ein Götzenbild angebetet.«
»Wir waren Mizra -«
»Ach! Seid still«, mischte sich eine Frau ein.
Merkwürdigerweise verstummten alle und schauten weiter zu.
Nach einem Moment rückte der erste Mann, der etwas älter und gebildeter war, näher an mich heran, um meine Frage ganz zu beantworten. »Außerdem befindet sich darin Aharons Stab mit den Knospen, der bewies, dass el haShaday die Levim für alle Zeiten als Priester auserwählt hatte. Und schließlich enthält er noch einen Krug mit Manna, der Honignahrung aus der Zeit in der Wüste.«
Mein hilfsbereiter Nachbar erklärte mir außerdem, dass Gott selbst die Gewänder der Levim entworfen hatte: Sie sollten weiß sein, am Saum mit Glocken und Granatäpfeln verziert und weiß und golden bestickt. Dazu trugen die Priester turbanartige Kopfbedeckungen in Blau und Weiß, je nach Rang.
»Das da ist der Hohe Priester«, sagte Zorak zu uns, »Abia-thar.« Der Mann schritt ernst an uns vorüber, mit in der Sonne glänzendem Brustpanzer. »Diese Steine stehen für jeweils einen Stamm«, erläuterte Zorak. Ich besah mir den Schmuck des Hohen Priesters genauer. In den metallischen Panzer waren insgesamt zwölf Edelsteine in drei Reihen zu je vier Steinen eingearbeitet.
Trinkend und lachend verfolgten die Menschen aus den Stämmen, wie die Bundeslade vorbeischaukelte.
»Der Rubin auf dem Brustpanzer steht für Ruben, der Topas für Tsimeon, der Beryll für Gad, der Türkis für Yuda, der Lapislazuli für Y’sakhar, der Smaragd für Zebuion, der Hyazinth für Efra’im, der Achat für Mana’sa, der Amethyst für Binya-min, der
Weitere Kostenlose Bücher