Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
der ausgesucht wird, ist entweder der Beste der Gruppe oder der Schlechteste, ken?«
Ich nickte.
»Siehst du?«, sagte er achselzuckend. »Wir sind auserwählt, wir sind in einer bestimmten Absicht augesucht worden. Manchmal, um den anderen ein Vorbild zu sein, um zu zeigen, wie es sein sollte. Manchmal, ach, dienen wir aber auch als abschreckendes Beispiel. >So soll es nicht seine, will Shaday den anderen Völkern damit sagen. Jetzt dürft ihr sie nicht beachten.««
»Und was hat das -«
»Mit Sklaverei zu tun?«
»Ken?«
»So wie die Schafe dem Hirten gehören und ausgesucht werden, um verzehrt oder geopfert zu werden, und so wie die Arbeiter dem Aufseher gehören und ausgewählt werden, um befördert oder entlassen zu werden, so gehört ein Sklave seinem Besitzer.« Dadua kippte seinen Becher Wein hinunter. »Wir sind Sklaven. Shaday ist unser Besitzer.« Er streckte die Hand aus. »Die Felder und Hügel gehören nicht uns.« Er rülpste. »Sie gehören Gott. Alle fünfzig Jahre fällt das Land, wer es auch gerade besitzen mag, zurück an den allerersten Eigentümer aus der Zeit, als die ersten Stammesbrüder hier Land erwarben. Dadurch sollen wir daran erinnert werden, dass wir hier nur Pächter sind.«
Er goss Wein in meinen leeren Becher. »Durch unsere eigene Klugheit haben wir es hierher geschafft, sie gibt uns Nahrung, Kleidung, ein Heim und Schutz, ken, doch nur weil Shaday das zulässt. Wenn wir seine Gesetze brechen, wird er uns töten.« Dadua lachte freudlos. »Ganz offensichtlich, nachon ?« Er schüttelte den Kopf. »Dann wird uns das Land ausspucken. Und deswegen müssen wir jeden Verstoß ahnden.«
Avayra goreret avayra, spukte es mir im Kopf herum. »Ist es ein Segen oder ein Fluch, auserwählt zu sein?«, fragte ich.
Ich hatte mehrere Wendepunkte der Geschichte miterleben dürfen. War das nun ein Segen oder ein Fluch? Und dass ich hier saß und mit dem Verfasser der Psalmen theologische Fragen diskutierte: War das ein Segen oder ein Fluch?
Er lachte und schenkte sich den nächsten Becher Wein voll. »Als wir als Könige in Ägypten lebten, war es ein Segen. Als wir als Sklaven in Ägypten lebten, war es ein Fluch.«
»Also ist es ein Segen, solange ihr die Herrscher seid?«
»Lo, auch als wir selbst über uns Volk herrschten, haben wir uns manchmal verflucht. Lo, ob Segen oder Fluch hängt davon ab, was wir von Shaday glauben. Wenn Er uns straft, damit wir uns richtig verhalten, weil das uns und dem Land Gewinn bringt, dann kann selbst ein Fluch ein Segen sein.«
»Ich glaube, ich bin zu betrunken, um dir noch folgen zu können.« Mir schwirrte der Kopf. Ich blickte in meinen Becher, bis auf den Grund, und fragte mich, ob ich wohl schon arg lallte. »Es steht euch also frei zu entscheiden, ob der Becher halb voll oder halb leer ist?«
Er sah überrascht auf den Becher in seiner Hand. Dann lachte er. »Ach, weil der Weinpegel unverändert bleibt, sondern sich nur unsere Wahrnehmung ändert? Isha! Das ist eine gute Lehre!«
Ich dankte im Stillen den unzähligen Lebenshilferatgebern, in denen ich das gelesen hatte.
Dadua streckte sich. »Wir sind alle Sklaven, G’vret. Du bist möglicherweise eine Sklavin Shadays, weil du, ohne dass du es dir ausgesucht hättest, auf eine bestimmte Weise oder an einem bestimmten Ort leben musst. Doch du bist frei, wenn du dich nur dazu entscheidest.«
Am nächsten Tag erhielten wir die gute Nachricht, dass Avgay’el zwar schwach, doch immer noch am Leben war. Die zweite gute Nachricht war, dass die Krankheit, falls Dadua und ich uns angesteckt hätten, bereits hätte ausbrechen müssen. Die schlechte Nachricht war, dass ich den schlimmsten Kater meines Lebens hatte - von einem Besäufnis mit dem König von Israel.
Und schließlich hatte man einen neuen Termin für das Suk-kot festgesetzt, das auf Grund der feuerspeienden Bundeslade verschoben worden war. Zorak, der mich aus meiner Zelle befreite, erklärte mir, dass wir während des Festes alle im Freien und in Zelten leben würden, die mit den vier Arten dekoriert seien.
»Und diese Arten wären ... ?«, fragte ich, während wir durch das Labyrinth dem Licht entgegenwanderten. Als wir oben ankamen, gingen mir die Augen über, denn wir befanden uns oberhalb der Stadt und blickten auf das Milo und die Stadttore
hinab.
»Ach «, fluchte Zorak. »Ich muss irgendwo falsch abgebogen sein.«
Ich blickte über meine Schulter und schnappte unwillkürlich nach Luft. Die Stiftshütte?
»G’vret«,
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