Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
war gerade unterwegs, um Wasser zu verteilen, als sie mir zum ersten Mal auffielen. Die Armen.
Ich war zwar theoretisch eine Sklavin, doch ich hatte zu essen und ein Dach über dem Kopf. Sie waren zwar theoretisch frei, doch sie hatten keines von beiden. Plötzlich begriff ich, warum so viele Menschen sich selbst oder ihre Kinder in die Sklaverei verkauften. In gewisser Hinsicht war das Leben als Sklave besser als ihres. Das erschien mir schrecklich pervers.
Ich sah sie in den Ecken der Felder hocken und Gerste zupfen. Als ich mich nach ihnen erkundigte, antwortete Shana: »So will es das Gesetz. Nicht alle haben Felder geerbt, also sind jene, die welche geerbt haben, gehalten, sie mit jenen zu teilen, die keine besitzen. Sie dürfen alles aufsammeln, was auf den Feldern und in den Ecken zurückbleibt.«
Als ich in den Hof zurückkehrte und das Thema anschnitt, wachte ‘ Sheva zum ersten Mal auf und bot mir an, mit mir zusammen auf die Felder zu gehen. Wahrscheinlich war es der längste Satz, den sie jemals zu Stande gebracht hatte. Wir zogen gemeinsam los, bis sie mich stehen ließ und auf einige der Getreidesammler zulief.
»Das ist ihre Familie«, klärte mich eine andere Sklavin auf. »Sie haben sie verkauft, weil sie sich keine zwei Mädchen und einen Jungen leisten konnten.«
Ich beobachtete, wie ‘Sheva vor einem Mann mit herabsak-kenden Schultern und einer kauernden Frau mit einem Baby an der Brust stehen blieb.
»Sobald sie verkauft war, bekamen sie noch ein Kind. Einen Sohn«, erläuterte die Sklavin. Offenbar hatten sie den behalten. Arme ‘Sheva.
Keiner rührte die Transuse auch nur an, und dann sahen wir ihre Familie abziehen. ‘Sheva ließ den Kopf sinken, nahm ihren Krug auf und stolperte über das Feld davon. Sie hatte die falsche Richtung eingeschlagen und ging weder auf den Palast noch auf die Stadt zu. Schweigend sahen wir ihr nach.
»Die vielen Ecken summieren sich zu einem Viertel der ganzen Ernte. Das ist eine Menge«, meinte ich, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen.
Der Blick der anderen Sklavin wurde kalt.
»Es sind Stammesbrüder. Entweder sorgen wir auf diese Weise für sie, oder sie werden darum betteln müssen, das Gleiche zu werden wie wir. Sklaven.« Sie zog ab und ließ mich gedankenversunken stehen, bis ich mein Stichwort hörte:
»Du! Isha! Wasser!«
An jenem Nachmittag gab ich mir redlich Mühe, nett zu der Transuse zu sein. Sie war stumm wie ein Hefepilz, vollkommen abgeschottet und in sich gekehrt. Zwischen uns lagen Welten, dabei war sie kaum jünger als Wadia, mit dem ich mich von Anfang an verstanden hatte. Ich seufzte und drehte den Stein.
»Sie kommt!«, hallte es plötzlich durch den Hof. Shana tauchte aus dem Nichts auf und schubste mich vom Mühlstein. Hag’it, eine von Daduas Konkubinen, sammelte eilig das Mehl auf, und dann verschwanden beide Frauen durch das Hoftor hinaus.
Wer kam? Männer und Frauen drängten durch den Hof, doch niemand schenkte mir oder ‘Sheva Beachtung. »Hast du gesehen, was für ein Spektakel er für sie aufführt?«, hörte ich.
‘Shevas Kopf fuhr hoch wie der einer Marionette. Sie sah mich mit klarem Blick an. »Mik’el«, sagte sie und schnappte meine Hand. Wir liefen durch den Hof, aus dem Tor hinaus und mischten uns unter die Menge.
Man konnte den Eindruck bekommen, dass alle Bewohner Mamres draußen waren und alle zum Tor rausdrängten. ‘Sheva war dünn und geschmeidig und ließ meine Hand keine Sekunde los, als wir uns durch die Menge quetschten und uns durch das Gedränge an den Toren schoben und schubsten, bis wir endlich ganz vorne standen. An der Stadtmauer gleich neben dem Tor wartete Dadua, in seine feinsten Gewänder gehüllt.
Die Sonne brach sich in der Krone auf seinem Kopf. Er trug ein in Gold gefasstes, lilablaues Gewand, das sich in einer Spirale um seine Beine zog. Bart und Haar waren geölt, und in seinen Ohren hingen goldene Reifen. Selbst seine Sandalen waren golden. Neben ihm wartete N’tan, dessen weiße Amtstracht in der Nachmittagssonne strahlte. Manchmal kam mir N’tan äußerst vertraut vor.
»Ist er nicht göttlich?« ‘ Sheva starrte mit großen Augen auf den Monarchen.
Was wurde hier gespielt? Ich blickte auf Dadua. »Ken, er ist wirklich ganz ansehnlich.«
»Er schreibt einfach göttliche Musik«, meinte sie hingerissen.
Ich spähte über die Menge hinweg und versuchte auszumachen, worauf wir alle warteten. Die Menschen steckten fest, sodass wir nicht weiter vorwärts kamen.
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