Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
war. Die Königin Mik’el stand auf und stolzierte hinaus. Dadua folgte ihr auf dem Fuß.
»Ach, nun, sie muss müde sein nach einem so langen Tag«, nahm sie ein älterer Gibori in Schutz. »Sie ist nicht mehr so jung wie früher.«
Dafür hätte sie ihm wahrscheinlich die Augen ausgekratzt. Ich wartete, bis alle gegangen waren, dann war es wieder einmal Zeit zum Abräumen.
Ganz im Ernst, mein gegenwärtiger Dienst unterschied sich kaum von einem Job als Kellnerin. Allerdings ohne Trinkgeld. Dafür aber auch ohne Anmache. Ich war im Grunde unsichtbar. Es kam mir so vor, als seien die Sklaven so etwas wie Tapeten. Hatte ich jemals den hunderten von Männern, Frauen, Knaben und Mädchen in den ägyptischen Palästen Thebens Aufmerksamkeit geschenkt? Oder jenen auf Kallistae in Aztlan? War ich damals so blind gewesen, wie ich jetzt unsichtbar war?
RaEmhetepet versetzte dem Mädchen eine Ohrfeige und schickte es weg. Endlich allein! Endlich einmal durchatmen, ohne dass ihr auf Schritt und Tritt vierzehn Zofen, drei blumenstreuende Kinder und fünf Frauen folgten, die unablässig an ihrer Frisur, ihrer Schminke und ihren Kleidern herumfummelten. Es reichte; allmählich trieb sie das zum Wahnsinn!
Fast im selben Moment kam Meritaton herein. »Herr, du hast dieses Kind geschlagen?« RaEms Braut war zu zierlich und zu verdammt lieblich, um irgendwen zu schlagen.
RaEm konzentrierte sich auf ihr Spiegelbild. »Und wenn?«
Das Mädchen glitt durch das Zimmer heran. »Bist du nicht glücklich, Herr? Hast du irgendeinen Wunsch?«
Sie legte eine kleine Hand auf RaEms Schulter, und RaEm musste sich beherrschen, um sie nicht abzuschütteln. Sie stand am Beginn ihres Zyklus, und ihre einmonatige Verbannung hatte sich auf zwei Monate ausgedehnt. Noch nie hatte sie sich nach einem Menschen so verzehrt wie nach Echnaton. Sie brauchte seinen Körper, seine Stimme, seinen Verstand. Ihr war kalt, die Begierde ließ sie bis ins Mark frösteln. »Es ist mir zutiefst zuwider, unter diesen Rebellen zu leben«, sagte sie schließlich.
Meritaton huschte ans Fenster und sah hinaus auf die Stadt
Waset. Sie stützte sich auf die niedrige Lehmziegelmauer. »Ich muss gestehen, dass es mir hier ausgesprochen gut gefällt. Schau nur! Alles ist so bunt, so fröhlich.«
Mit steinerner Miene betrachtete RaEm sich im Bronzespiegel. Waset war ein Trümmerfeld. Die Tempel, einst bunt bemalt und mit Juwelen besetzt, waren ausgeblichen und verfallen. Die farbenfrohen Standarten, die früher aus jedem Fenster der Stadt gehangen hatten, waren verschwunden. Es war heiß und weiß, voll und laut hier. An der Straße der Adligen reihten sich die mit Brettern vernagelten Häuser. Die Exerzierplätze für Hats einstmals große Armee waren überwuchert und dienten den Feldmäusen als Tummelplatz.
Auch wenn RaEm Echnaton als Mann liebte, als Herrscher war er ihr verhasst. Hatte er denn gar keinen Stolz? Wusste er nicht, was die Menschen über ihn, den Sohn der Sonne, Pharao, ewig möge er leben!, den Fleisch gewordenen Gott, redeten? Auch ihr waren die Menschen im Grunde egal, jedenfalls als Individuen. Auf einem Feld wuchsen schließlich unendlich viele Körner. Doch als Masse stellten sie den Wohlstand Ägyptens dar, die Beine des Thrones, auf dem das Gewicht des Könighauses ruhte.
Und sie hassten Echnaton.
Meritaton war immer noch auf dem Balkon und damit beschäftigt, alles aufzuzählen, was ihr an Waset gefiel. RaEm beobachtete ungerührt, wie ihre Schminke aufgetragen wurde: Bleiglanz für die Augen, in dicken Linien, um die mandelförmigen Umrisse auszulöschen. Ihr Kopf wurde rasiert, um die nächtlichen Stoppeln zu entfernen. Ob sie sich darüber wunderten, dass sie nie im Gesicht rasiert werden musste? Ihr Magen knurrte, doch sie achtet nicht darauf. Vor allem in Waset musste sie so mager und männlich wie möglich bleiben, denn hier war man nicht an die Vorstellung gewohnt, dass sich Männer und Frauen bis auf die Kleidung möglichst ähnlich sehen sollten. Sie dankte den Göttern, dass zurzeit Hemden in Mode waren.
Zwar würde ihr Ankleider bezeugen, die Ausbuchtung von Semenchkares Männlichkeit gesehen zu haben, dennoch machte sich RaEm Sorgen. Meritaton ahnte nichts, und RaEm wollte ihr Geheimnis für sich behalten - vor allem in Waset. Dass sie so eng aufeinander lebten, machte es umso schwieriger, ihren Monatszyklus zu verheimlichen.
»Königin Tiye möchte dich sprechen«, meldete der Zeremonienmeister.
RaEm erhob sich, stieg in
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