Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
die geschwungenen Sandalen mit den Zehenschlaufen und rückte das schwere Gegengewicht und den Kragen um ihren Hals zurecht. »Wohin gehst du, Herr?«, fragte Meritaton. Sie stand neben ihr, mit verletzt aufgerissenen Augen. »Du hast mir doch versprochen, dass wir heute gemeinsam über den Markt gehen würden. Werden wir das nicht?« Wieder berührte sie RaEm.
Semenchkare erhob sich, während der Sklave ihm den juwelenbesetzten Dolch samt Scheide anlegte. »Mich rufen die Geschäfte. Ich komme erst spät heim.«
Zornig blinzelnd wandte Meritaton das Gesicht ab. »War ich zu redselig? Hat dir das Essen nicht geschmeckt, das ich anrichten ließ? Wieso -«
RaEm verdrehte die Augen und gab ihrer Frau einen Kuss. »Es sind Geschäfte. Sonst nichts. Geh mit deinem Cousin ... irgendeinem« - sie gab es auf, nach einem Namen zu suchen -»auf den Markt. Aber nimm auf jeden Fall eine Leibgarde mit. Diese Menschen achten das Haus deines Vaters nicht.«
»Das Haus deines Bruders«, meinte Meritaton.
»Ganz recht. Und jetzt zieh kein Gesicht, sondern geh.«
Meritaton lächelte unter Tränen und schlug fast flüsternd vor: »Vielleicht könnten wir es ja heute Nacht nach deiner Rückkehr noch mal . probieren?«
RaEm sah über sie hinweg.
»Vielleicht. Möge der Aton deinen Tag segnen.«
Ihre Gemahlin zog den Kopf ein und verschwand. Den Göttern sei Dank, dachte RaEm.
Sobald man sie in ihren Palankin verfrachtet hatte, öffnete RaEm die Schriftrollen, die ihr tief in der Nacht zugestellt wurden, solange Meritaton unter dem Einfluss der Droge schlief, die sie jedes Mal trank, bevor sie und »Semenchkare« sich liebten. Wie lästig sie war, dachte RaEm.
Einen Moment hielt sie inne, um das Siegel auf dem Papyrus zu betrachten. Hatschepsut, meine teure Freundin, wie ich dich vermisse, dachte sie. Dann ritzte RaEm den Verschluss mit dem Fingernagel auf, entrollte den Papyrus und kniff die Augen zusammen, um die winzigen, makellosen Zeichen des Schreibers zu entziffern.
Der damalige Priester hatte ohne Fehl aufgezeichnet, wo was gelagert wurde, zum Beispiel Getreide für ein Land, das kurz vor dem Verhungern stand. Feld um Feld lag brach, niemand pflügte, niemand säte, denn diese Aufgaben waren seit jeher den Priestern vorbehalten gewesen. Das einfache Volk beschränkte sich auf ein paar kleine Gemüsebeete. Im Austausch gegen ihre Steuern und zum Lohn für ihre Treue den Göttern und ihren Schreinen gegenüber erhielten die Menschen Mehl, aus dem sie Brot buken.
Nur dass es kein Mehl, kein Getreide und bald auch kein Brot mehr geben würde.
RaEms Finger folgten den Linien, die der Schreiber gezeichnet hatte. Sie zeigten mehrere unterirdische Getreidesilos. In den darauffolgenden Dynastien - RaEm wusste nicht, wie viele es gewesen waren oder wie viel Zeit inzwischen verstrichen war - waren die Priester stets diesem Muster gefolgt. Also müsste RaEm dort auf Getreide stoßen.
Sie winkte einen Sklaven herbei. »Geh zu Königin Tiye«, befahl sie. »Richte ihr aus, dass ihr Sohn Semenchkare wegen dringender Geschäfte die Stadt verlassen musste und erst am Wochenende zurückkehrt. Bitte sie, diese Information auch an seine Gemahlin, die Prinzessin Meritaton, weiterzugeben.«
Der Sklave zog den Kopf ein, und RaEm schickte ihn los, um sofort einen anderen herzuwinken. Nachdem sie ihm einige weitere Anweisungen erteilt hatte, beugte sie sich vor zu dem Palankinträger. »Bring mich zu den Ställen und besorge dann ein Boot, das mich am Nil erwartet. Einen kleinen Kahn, nichts Besonderes.«
Sie hatte noch nicht viel Macht, doch allmählich lernte sie, damit umzugehen.
Die Reise hatte doppelt so lange gedauert, wie sie veranschlagt hatte. »Stopp!«, rief sie den Ruderern zu. Wieder blickte sie auf die Karte und dann hoch. Nachdem sie wieder einmal die Moskitos weggewedelt hatte, ließ sie sich aus dem Ruderboot helfen. Sofort versanken ihre Füße bis zu den Waden im schlammigen Untergrund.
RaEm gab ihre Sandalen verloren und stapfte durch das einstmalige Feld davon. »Die Überschwemmung war doch nur schwach, wieso verrottet dieses Feld?«, fragte sie den fassungslosen Bauern, den sie ein paar Felder entfernt aufgegabelt hatten.
»Der Deich, Herr«, antwortete der Mann. »Er ist vor ungefähr zwei Überschwemmungen gebrochen, und niemand kann ihn flicken.«
»Was benötigt ihr für die Reparatur?« RaEm suchte sich vorsichtig ihren Weg. Angeblich gab es in solchen Sümpfen auch Schlangen.
»Steine, Herr. Wir haben
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