Frankenstein
sogar die Erinnerung an uns beide rasch verfliegen. Ich werde nicht mehr die Sonne oder die Sterne sehen oder spüren, wie der Wind über meine Wangen streicht. Licht, Gefühl und Bewußtsein werden vergehen, und in diesem Zustand muß ich mein Glück finden. Vor einigen Jahren, als die Bilder, die diese Welt bietet, zum ersten Mal vor mir aufgingen, als ich die wohltuende Wärme des Sommers spürte und das Rascheln des Laubes und das Zwitschern der Vögel hörte und als dies alles für mich bedeutete, hätte ich geweint, wenn ich hätte sterben müssen, jetzt ist es mein einziger Trost. Von Verbrechen besudelt und von bitterster Reue zerrissen, wo, anders als im Tod kann ich Ruhe finden?
Lebwohl! Ich verlasse dich und mit dir den letzten des Menschengeschlechts, den diese Augen jemals erblicken werden. Ade, Frankenstein! Wärst du noch am Leben und hegtest immer noch den Wunsch nach Rache gegen mich, könntest du ihn besser befriedigen, indem du mich am Leben ließest, als durch meine Vernichtung. Aber so war es nicht, du hast meinen Tod gesucht, damit ich nicht noch größeres Unglück verursache. Und hättest du, auf eine mir unbekannte Weise, nicht zu denken und zu fühlen aufgehört, würdest du mir keine größere Strafe wünschen, als ich sie jetzt erlebe. Sosehr du im Innersten zerstört warst, so blieb doch meine Qual größer als die deine; denn der bittere Stachel der Reue wird nicht aufhören, in meinen Wunden zu bohren, bis der Tod sie für immer schließt.
Doch bald«, rief er mit schwermütiger und feierlicher Begeisterung, »werde ich sterben, und was ich jetzt empfinde, wird nicht mehr empfunden. Bald sind diese brennenden Seelenqualen erloschen. Triumphierend werde ich meinen Scheiterhaufen besteigen und in der Todesqual der folternden Flammen frohlocken. Das Licht des Brandes wird verblassen, die Winde werden meine Asche ins Meer wehen. Mein Geist wird in Frieden ruhen, oder falls er denkt, wird er gewiß nicht so denken. Lebewohl.«
Mit diesen Worten sprang er aus dem Kajütenfenster auf die Eisscholle, die am Schiff lag. Bald hatten ihn die Wellen davongetragen, und er verlor sich in der Dunkelheit und Ferne.
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Nachwort
Die Geschichte von Frankenstein, dem modernen Prometheus, und seinem Geschöpf, die den zeitgenössischen Lesern trotz Abhärtung durch eine bereits fünfzigjährige Tradition des »gotischen« Schauerromans den Atem stocken und das Blut in den Adern g6rinnen ließ und selbst abgebrühten Kritikern, wie der Rezensent von Blackwood’s Edinburgh Magazine bekannte, ein wenig an den Nerven zerrte; diese Geschichte, die in mehr oder weniger weit vom Original entfernten Adaptionen nun seit Jahrzehnten schon zu den ständigen Exponaten im Gruselkabinett des modernen Horrorfilms gehört und in der Beliebtheit bei Regisseuren und Produzenten vielleicht nur von Bram Stokers Dracula übertroffen wird – sie ist das Werk einer jungen Frau von neunzehn Jahren, zu deren madonnengleicher Erscheinung mit den zarten Linien des Gesichts und den großen braunen Augen unter einer freien, von blondem Haar gerahmten Stirn dieses Produkt ihrer Phantasie in ebenso schroffen, durchaus rätselvollem Gegensatz zu stehen schien wie zu ihrem heiter-klaren Gemüt und der ruhigen, fast kühlen, doch zutiefst weiblichen Wesensart.
Mary Shelley wurde am 30. August 1797 in London als Tochter zweier literarischer Berühmtheiten geboren. Ihr Vater war Wiliam Godwin (1756–1836), dessen sozialkritisches Werk Inquiry Concerning Political Justice (Untersuchung über die politische Gerechtigkeit, 1793) zum Evangelium des radikalen Flügels der Bewegung zur Reform des englischen Parlaments wurde und der einen bedeutenden Einfluß auf die englische literarische Romantik ausübte. Ihre Mutter, Mary Wollstonecraft (1759–1797), die nur wenige Tage nach der Geburt ihrer Tochter starb, gehörte mit A Vindication of the Rights of Women (Verteidigung der Rechte der Frau, 1792) zu den ersten großen Vorkämpferinnen der Gleichberechtigung der Frau.
Mary Godwin wuchs in einer Atmosphäre intensiven geistigen Lebens auf, in der sich die großen ideengeschichtlichen Bewegungen von Aufklärung und Romantik trafen und auf mannigfache Weise ineinander verschlangen. In dem Kreis um ihren Vater lernte sie alles kennen, was in der Reformbewegung und im literarischen Leben der Zeit Rang und Namen hatte, darunter Jeremy Bentham und Samuel Taylor Coleridge, welch letzterer bei einer Gelegenheit seine
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