Frankenstein - Der Schatten: Roman (German Edition)
Drohung wahrmachen würde.
Bucky durchdachte seine Strategie noch einmal, wich vom Fenster zurück und ging zu Janet. »Charles ist allein und sieht sich irgendeinen Film an. Die übrige Familie muss im Bett liegen. Ich denke, vielleicht bin doch ich derjenige, der sich nicht blicken lassen sollte. Klopf nicht an die Tür. Poch ans Fenster. Lass ihn sehen … wer du bist.«
»Machst du Fotos?«, fragte sie.
»Ich glaube, über die Kamera bin ich hinausgewachsen.«
»Hinausgewachsen? Werden wir uns doch kein Fotoalbum zulegen?«, fragte Janet.
»Ich glaube nicht, dass wir ein Album brauchen. Ich glaube, wir werden derart damit beschäftigt sein, alles auszuleben, uns ein Haus nach dem anderen vorzunehmen, dass wir gar keine Zeit haben werden, etwas in der Erinnerung wiederaufleben zu lassen.«
»Dann bist du jetzt also so weit, dir einen von ihnen selbst vorzuknöpfen?«
»Ich kann es kaum erwarten«, bestätigte Bucky.
»Was glaubst du, wie viele wir gemeinsam vor dem Morgen schaffen können?«
»Ich denke, zwanzig oder dreißig packen wir locker.«
Janets Augen leuchteten in der Dunkelheit. »Ich glaube, wir bringen es auf hundert.«
»Dann fassen wir das doch mal als Ziel ins Auge.«
15.
Auf der verglasten Veranda hingen Pflanzen von der Decke. In dem schummerigen Licht wirkte der Farn, der aus Körben herabhing, wie gigantische Spinnen, die stets zum Angriff bereit waren.
Erika fürchtete sich zwar nicht vor dem Troll, aber da es ihr andererseits auch nicht recht war, mit ihm im Dunkeln zu sitzen, zündete sie eine Kerze in einem roten Glasgefäß mit Facettenschliff an. Die geometrischen Formen des Glases zerlegten die lebhafte Flamme in leuchtende Vielecke, die auf dem Gesicht des Trolls schimmerten. Bei diesem Gesicht hätte es sich um ein kubistisches Porträt von Poes Rotem Tod handeln können, wenn der Rote Tod in der Geschichte ein seltsam aussehender zwergenhafter Kerl mit einem knubbeligen Kinn, einem lippenlosen Schlitz als Mund, Warzen auf der Haut und riesigen, ausdrucksvollen, wunderschönen – und unheimlichen – Augen gewesen wäre.
Da sie Victors Frau war, wurde von Erika erwartet, dass sie sowohl als Gastgeberin bei Einladungen in diesem Haus als auch dann, wenn sie gemeinsam mit ihrem Mann bei anderen zu Gast war oder ihn zu gesellschaftlichen Ereignissen begleitete, geistreich und redegewandt auftrat. Daher war ihr eine Enzyklopädie literarischer Anspielungen ins Gehirn runtergeladen worden, auf die sie mühelos zurückgreifen konnte, obwohl sie nie eines der Bücher gelesen hatte, auf die sich diese Anspielungen bezogen.
Tatsächlich war es ihr sogar strikt verboten, Bücher zu lesen. Erika vier, ihre Vorgängerin, hatte viel Zeit in Victors gut bestückter Bibliothek verbracht, vielleicht in der Absicht, sich weiterzubilden und ihm eine bessere Ehefrau zu werden. Aber die Bücher hatten ihr geschadet, und sie war eingeschläfert worden wie ein krankes Pferd.
Bücher waren gefährlich. Bücher waren das Gefährlichste überhaupt auf Erden, zumindest für Victor Helios’ jeweilige Ehefrau. Erika fünf wusste nicht, warum dem so war, aber ihr war klar, was sie riskierte, falls sie beginnen sollte, Bücher zu lesen – sie würde grausam bestraft und vielleicht sogar ausgeschaltet werden.
Eine Zeit lang betrachteten sie und der Troll einander interessiert über den Tisch hinweg, während sie ihren Cognac trank und er den Chardonnay Far Niente, den sie ihm gegeben hatte. Mit gutem Grund sagte sie nichts, und er schien es zu verstehen und sie wegen der Lage zu bemitleiden, in die er sie mit den wenigen Worten gebracht hatte, die er bei seinem früheren Besuch gesagt hatte.
Als er das erste Mal zum Wintergarten gekommen war, seine Stirn an eine der Glasscheiben gepresst und sie angestarrt hatte, wie sie dasaß, bevor Erika einen Picknickkorb für ihn gepackt hatte, hatte der Troll gesagt: »Harker.«
Sie hatte auf sich selbst gedeutet und gesagt: »Erika.«
Das Lächeln, mit dem er sie daraufhin angesehen hatte, war wie eine hässliche Wunde gewesen. Zweifellos würde es nicht weniger grässlich sein, wenn er wieder lächelte, denn er besaß ein Gesicht, das durch nähere Bekanntschaft nicht gewann.
Erika war gegenüber seinem missglückten Äußeren so nachsichtig gewesen, wie man es von einer guten Gastgeberin erwarten sollte, und hatte ihn weiterhin durch die Scheibe angestarrt, bis er mit seiner krächzenden Stimme gesagt hatte: »Hasse ihn.«
Keiner von beiden hatte
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