Frankenstein - Der Schatten: Roman (German Edition)
District von New Orleans.
Ihre Identitätsverwirrung hatte begonnen, als der wesentlichste Mechanismus zum Abbau von Stress – triebhafter, gewalttätiger Sex mit zahlreichen wechselnden Partnern – sie plötzlich nicht mehr von ihren Ängsten befreien konnte. Stattdessen begannen die brutalen Orgien ihre Ängste zu verstärken .
In den schlafsaalähnlichen Räumlichkeiten der Hausangestellten gab es Fernsehen, das einen theoretisch von seinen Sorgen ablenken konnte, aber die Programme, die die Alte Rasse produziert hatte, waren so erbarmungslos dämlich, dass sie auf Angehörige der Neuen Rasse über dem Rang eines Epsilons wenig Reiz ausübten.
In ihrer Unterkunft konnten sie auch Filme aus dem Internet runterladen. Die meisten waren nicht besser als die Fernsehsendungen, obwohl man ab und zu ein Juwel fand. Der herrliche Hannibal Lecter begeisterte sämtliche Hausangestellten. Sie sprangen auf und jubelten ihm zu, bis sie heiser waren. Und seine Gegenspielerin, die FBI-Agentin Clarice Starling, war eine derart diensteifrige kleine Betriebsnudel, dass alle sie mit Vergnügen ausbuhten, wenn sie sich mal wieder einmischte.
Vor neun Tagen hatte Christine auf der inbrünstigen Suche nach Ablenkung von ihren Ängsten und ihrer Verzweiflung Alfred Hitchcocks Rebecca aus dem Internet runtergeladen. Der Film faszinierte sie grenzenlos. Angeblich war es eine Romanze, sogar eine Liebesgeschichte.
Die Liebe war ein Mythos. Und selbst wenn sie kein Mythos war, war sie eine Dummheit. Die Liebe stellte den Triumph der Gefühle über den Intellekt dar. Sie lenkte vom Leistungsstreben ab. Sie führte zu allen Arten von gesellschaftlichen Übeln, wie beispielsweise Familienverbänden,
denen Leute größere Loyalität als ihren Herrschern gelobten. Die Liebe war ein Mythos, und sie war ein Übel, die Liebe war ein Übel. Der Film faszinierte sie nicht aufgrund der Romanze, sondern weil in der Geschichte jeder tiefe, finstere Geheimnisse hatte. Die wahnsinnige Mrs Danvers hatte Geheimnisse. Maxim de Winter hatte Geheimnisse, die sein Untergang sein mochten. Rebecca, die erste Mrs de Winter, hatte Geheimnisse gehabt. Die zweite Mrs de Winter war zu Beginn ein tugendhaftes Dummchen, aber am Ende des Films hatte auch sie ein finsteres Geheimnis, weil sie zur Kollaborateurin geworden war, um ein Verbrechen zu verbergen, alles im Namen der – wen wundert’s? – Liebe.
Christine konnte den Film nachvollziehen, weil sie, wie alle Angehörigen der Neuen Rasse, Geheimnisse hatte. Tatsächlich war sie ein tiefes, finsteres Geheimnis, denn sie bewegte sich unter den Angehörigen der Alten Rasse und machte einen unschuldigen Eindruck, wartete jedoch ungeduldig darauf, dass ihr gesagt wurde, sie könnte so viele von ihnen töten, wie sie wollte.
Der Film bezauberte sie auch, weil die erste Mrs de Winter den Tod verdient hatte, wie alle Angehörigen der Alten Rasse den Tod verdient hatten. Die verrückte Mrs Danvers hatte den Tod verdient – und kam in Manderley in den Flammen um. Sogar die Alte Rasse war der Meinung, die beiden hätten den Tod verdient, und sie hatten ja so Recht.
Trotz der Gründe, aus denen der Film Christine in seinen Bann zog, hätte er nicht zwangsläufig dazu geführt, dass sie ihre Identität verwirrt in Frage stellte, wäre sie nicht fast ein Zwilling von Joan Fontaine gewesen, der Schauspielerin, die in dem Film die zweite Mrs de Winter spielte. Die Ähnlichkeit war gespenstisch. Schon beim ersten Ansehen war es Christine zeitweilig so erschienen, als sei sie in dem Film und erlebte die Geschichte als eine der Beteiligten.
In jener ersten Nacht sah sie sich Rebecca fünfmal an. Und fünfmal in der folgenden Nacht. Und fünfmal in der Nacht darauf.
Vor sechs Tagen, nachdem sie sich den Film schon fünfzehn Mal angesehen hatte, setzte Christines Identitätsverwirrung ein. In jener Nacht versenkte sie sich sechsmal in den Film.
Zu den Dingen, die so wunderbar daran waren, die zweite Mrs de Winter zu sein, zählte, dass zu dem Zeitpunkt, als Manderley vollständig abbrannte, alle Probleme der Frau gelöst waren. Ihr Leben mit Maxim würde von keinen weiteren Dramen oder Sorgen getrübt werden, und vor ihnen lagen Jahre eines behaglichen Alltags …
Wie wunderbar. Herrliche, friedliche Jahre. Jeden Nachmittag Tee mit Schnittchen und Keksen …
Manderley würde verloren sein, und das war betrüblich, aber in dem Wissen, dass alles eines Tages gut werden würde, sollte sie Manderley jetzt genießen, so weit
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