Frankenstein - Der Schatten: Roman (German Edition)
verkauft. Aber …«
»Ja?«
Furcht stieg in Glendas Augen auf, und ihr bis dahin gelassenes Gesicht wirkte angespannt vor Sorge. »Hier im Haus gibt es zahlreiche Kleidungsstücke für Jungen und Mädchen.«
»Hier? Aber hier sind doch gar keine Kinder.«
Glendas Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Sie dürfen es niemals verraten.«
»Was darf ich nicht verraten? Wem darf ich nichts verraten? «
»Ihm dürfen Sie es nie verraten … Mr Helios.«
Erika drückte auf die Tränendrüse und trieb die Nummer mit dem Mitgefühl für die geschlagene Ehefrau so weit, wie sie es irgend wagte. »Glenda, ich werde nicht nur aufgrund meiner eigenen Unzulänglichkeiten geschlagen, sondern aus jedem Grund, der meinem … Schöpfer in den Kram passt. Ich bin ziemlich sicher, dass ich Schläge dafür bekäme, wenn ich ihm schlechte Nachrichten überbrächte. Bei mir sind alle Geheimnisse gut aufgehoben.«
Glenda nickte. »Folgen Sie mir.«
Vom südlichen Flur im Erdgeschoss gingen auch etliche Lagerräume ab. Einer der größten war ein begehbarer Kühlraum von knapp dreiunddreißig Quadratmetern, in dem ein Dutzend qualitativ hochwertiger Pelzmäntel aufbewahrt wurde – Nerz, Hermelin, Polarfuchs … Victor hatte nichts für die Gegner von Pelzmänteln übrig, da er sich für eine wesentlich wichtigere Bewegung starkmachte: die Menschengegner.
Außer dem Ständer mit den Mänteln befanden sich in dem Raum auch noch zahlreiche Schränke mit Kleidung aller Art, die nicht einmal in Erikas riesigem Kleiderschrank in der ehelichen Suite Platz gefunden hätte. Da seine Ehefrauen einander bis in die kleinsten Einzelheiten glichen, sparte sich Victor die Kosten für die Anschaffung einer neuen Garderobe. Er wollte jedoch, dass seine Erika zu jedem Zeitpunkt elegant herausgeputzt war, und er erwartete nicht von ihr, dass sie aus einem begrenzten Vorrat an Kleidungsstücken wählte.
Aus einigen Schubladen in der hintersten Ecke des Raums
zog Glenda nervös Kinderkleidung hervor, ein Kleidungsstück nach dem anderen, sowohl für Jungen als auch für Mädchen und in den verschiedensten Größen.
»Woher kommen all diese Sachen?«, fragte Erika.
»Mrs Helios, wenn er etwas davon erfährt, wird er Cassandra ausschalten. Und das ist das Einzige, was sie jemals glücklich gemacht hat. Es hat uns alle glücklich gemacht. Mit ihrer Verwegenheit und ihrem geheimen Leben gibt sie dem Rest von uns ein wenig Hoffnung.«
»Sie wissen, was ich zu erwarten habe, wenn ich schlechte Nachrichten überbringe.«
Glenda begrub ihr Gesicht in einem gestreiften Polohemd.
Im ersten Moment glaubte Erika, die Frau müsse weinen, denn das Hemd bebte in ihren Händen, und ihre Schultern hoben und senkten sich.
Stattdessen atmete Glenda tief ein, als suchte sie nach dem Geruch des Jungen, der das Hemd getragen hatte, und als sie von dem Hemd aufblickte, war ihr Gesicht der Inbegriff von Seligkeit.
»Seit fünf Wochen schleicht sich Cassandra nachts vom Anwesen, um Kinder der Alten Rasse zu töten.«
Cassandra, die Wäscherin.
»Oh«, sagte Erika. »Ich verstehe.«
»Sie konnte nicht noch länger darauf warten, dass ihr gesagt wird, das Töten dürfe endlich beginnen. Wir Übrigen … wir bewundern sie grenzenlos für ihre Dreistigkeit, aber wir können uns einfach nicht dazu durchringen.«
»Und was geschieht mit … den Leichen?«
»Cassandra bringt sie hierher mit, damit wir auch etwas von der Aufregung mitbekommen. Dann nehmen die Müllmänner, die andere Leichen zur Müllkippe bringen, die Kinder mit. Sie stellen keine Fragen. Wie Sie bereits sagten – wir stecken alle gemeinsam im selben Treibsand.«
»Aber ihr behaltet die Kleidungsstücke.«
»Sie wissen ja, wie es in unserer Unterkunft aussieht. Wir haben kein Eckchen Platz übrig. Dort können wir die Kleidung nicht aufbewahren. Aber die Vorstellung, die Sachen herzugeben, ist uns unerträglich. In manchen Nächten holen wir die Kleidungsstücke, bringen sie rüber in den Schlafsaal, und, Sie wissen schon, dann spielen wir damit. Ich kann Ihnen sagen, Mrs Helios, es ist ja so wundervoll, an die toten Kinder zu denken und Cassandra zuzuhören, wenn sie uns erzählt, wie es jeweils dazu gekommen ist. Es gibt nichts Schöneres. Es ist das einzig Gute, das wir jemals hatten.«
Erika wusste, dass ihr gerade etwas Entscheidendes zustieß, denn sie empfand Glendas Geschichte als verstörend und sogar schaurig, und die Vorstellung, den armen reizenden Troll in die Kleidungsstücke
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