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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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E-Mails einschließen, die sie und Richard einander wenige Tage
nach seiner Abfahrt zu schreiben begannen, ebenso wie die Tatsache, dass sie
ihm ein paar Wochen später irgendwie grünes Licht geben konnte, nach Minneapolis zu fliegen und für die Zeit, in der Walter sich auf einer weiteren
VIP-Reise, diesmal zu den Boundary Waters,
befand, zu ihr an den Namenlosen See zu kommen. Sie löschte die E-Mail mit
Richards Flugdaten sofort, so wie sie es mit allen anderen auch gemacht hatte,
allerdings nicht ohne sich Flugnummer und Ankunftszeit vorher genau eingeprägt
zu haben.
    Eine Woche
vor dem vereinbarten Tag fuhr sie allein an den See und gab sich dort ganz und
gar ihrer Derangiertheit hin. Dazu gehörte, dass sie sich jeden Abend
sternhagelvoll laufen ließ, später von Panik, Gewissensbissen und
Unschlüssigkeit gebeutelt aufwachte, dann den ganzen Vormittag verschlief, dann
in einem Schwebezustand trügerischer Ruhe Romane las, dann aufsprang und eine
Stunde oder länger in der Nähe des Telefons auf und ab ging, weil sie sich
nicht entscheiden konnte, ob sie Richard anrufen und ihm absagen sollte oder
nicht, und schließlich eine Flasche öffnete, damit das Ganze für ein paar Stunden
aufhörte.
    Langsam
schrumpfte die Zahl der verbleibenden Tage gegen null. Am letzten Abend trank
sie bis zum Erbrechen, schlief im Wohnzimmer ein und kam irgendwann vor
Morgengrauen schockartig wieder zu Bewusstsein. Damit ihre Hände und Arme wenigstens
so weit zu zittern aufhörten, dass sie Richards Nummer wählen konnte, musste
sie sich auf den immer noch unverfugten Küchenfußboden legen.
    Sie
erreichte seinen Anrufbeantworter. Er hatte eine kleinere Wohnung gefunden, ein
paar Straßen von der alten entfernt. Wenn sie sich dieses neue Domizil
vorstellte, sah sie immer nur eine größere Version des schwarzen Zimmers in
jener Wohnung vor sich, die er mit Walter geteilt und in der sie dann seinen
Platz eingenommen hatte. Sie wählte erneut, und wieder sprang der
Anrufbeantworter an. Beim dritten Versuch nahm Richard ab.
    «Komm
nicht», sagte sie. «Ich kann das nicht.»
    Er sagte
nichts, aber sie hörte ihn atmen.
    «Es tut
mir leid», sagte sie.
    «Ruf mich
doch in ein paar Stunden nochmal an. Wer weiß, wie es dir am Morgen geht.»
    «Ich habe
gekotzt. Musste mich übergeben.»
    «Das
klingt nicht gut.»
    «Bitte
komm nicht. Ich verspreche dir, dass ich dich von jetzt an in Ruhe lasse.
Offenbar musste ich erst bis an die Grenze gehen, um zu merken, dass ich das
nicht kann.»
    «Hm, ja,
das leuchtet mir ein.»
    «Es ist
doch richtig so, oder?»
    «Wahrscheinlich.
Ja. Ich glaube schon.»
    «Ich kann
ihm das nicht antun.»
    «Gut. Dann
komme ich nicht.»
    «Es ist
nicht so, dass ich nicht möchte, dass du
kommst. Ich bitte dich nur, es nicht zu tun.»
    «Ich
mache, was du willst.»
    «Ach Gott,
hör mir doch zu. Ich bitte dich zu tun, was ich nicht will.»
    Wahrscheinlich
rollte er jetzt, in Jersey City, mit den Augen. Aber sie wusste, er wollte sie
sehen, er war bereit, am Vormittag ins Flugzeug zu steigen, und die einzige
Methode, sich endgültig darauf zu einigen, dass er nicht kam, war die, das
Gespräch auf zwei Stunden auszudehnen, sich wieder und wieder im Kreis zu
drehen und den unlösbaren Konflikt auszutragen, bis sie sich beide so besudelt
und erschöpft fühlten und sich selbst und den anderen derart satthatten, dass
die Aussicht, sich zu treffen, jeden Reiz verlor.
    Ein nicht
geringer Teil des Kummers, den sie empfand, nachdem sie aufgelegt hatten,
erwuchs aus dem Gefühl, dass sie Richards Liebe verschwendete. Sie kannte ihn
als einen Mann, dem Weiberquatsch gehörig auf die Nerven ging, und der
Umstand, dass er in ihrem Fall zwei geschlagene Stunden davon ausgehalten
hatte, also ungefähr 119 Minuten
mehr, als aushalten zu können seiner Natur entsprach, erfüllte sie mit
Dankbarkeit und Bedauern über die Verschwendung, die Verschwendung. Die Verschwendung seiner Liebe.
    Woraufhin
sie - was sich beinahe von selbst versteht - zwanzig Minuten danach erneut bei
ihm anrief und ihm eine weitere, etwas kürzere, aber noch erbärmlichere Version
des ersten Telefonats zumutete. Es war eine kleine Vorausschau auf das, was
sie einst weit ausführlicher mit Walter in Washington exerzieren sollte: Je
mehr sie sich bemühte, seine Geduld zu erschöpfen, umso mehr Geduld brachte er
auf, und je mehr Geduld er aufbrachte, umso schwerer war es, von ihm
abzulassen. Zum Glück war Richards Geduld mit ihr, im Unterschied zu

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