Franzen, Jonathan
sehr freut, sie
hat nur Angst, dass du irgendwas Komisches sagen und sie bloßstellen könntest
oder ihren neuen Freund vielleicht nicht magst. Und wie froh er selber ist,
dass du das ihr zuliebe tust.»
Patty
zappelte dort am Fenster herum, das Zuhören fiel ihr schwer.
«Und dass
ihn wegen einiger Dinge, die er mir letzten Winter erzählt hat, ein schlechtes
Gewissen quält. Dass ich nichts Falsches von dir denken soll. Dass der letzte
Winter furchtbar war, wegen Joey, jetzt aber alles viel besser ist. schönste Zeit seit Jahren>, ich glaube, so hat er es gesagt.»
Eine
Kombination aus Würgen und Schluchzen erzeugte bei Patty einen lachhaft
peinlichen Rülpser.
«Was war das?», sagte
Richard.
«Nichts.
Entschuldige.»
«Na, wie
auch immer.»
«Mhm.»
«Und da
habe ich beschlossen, nicht zu fahren.»
«Klar.
Verstehe ich. Natürlich.»
«Gut.»
«Aber
warum kommst du nicht einfach trotzdem her. Ich meine, wo ich nun schon mal
hier bin. Und danach kehre ich in mein unfassbar glückliches Leben zurück, und
du fährst wieder nach New Jersey.»
«Ich habe
nur wiedergegeben, was er gesagt hat.»
«Mein
einfach unfassbar glückliches Leben.»
Oh, die
Versuchungen des Selbstmitleids. So süß für Patty, so unwiderstehlich der
Drang, ihm eine Stimme zu verleihen, und so abstoßend für ihn. Sie registrierte
den Moment, in dem sie einen Schritt zu weit gegangen war, genau. Wenn sie
ruhig und beherrscht geblieben wäre, vielleicht hätte sie ihn dann umgarnen und
überreden können, doch nach Philadelphia zu kommen. Wer weiß? Vielleicht wäre
sie nie wieder nach Hause zurückgekehrt. Aber sie vermasselte alles durch
Selbstmitleid. Sie hörte ihn immer kühler und distanzierter werden, woraufhin
sie sich nur noch mehr leidtat, und so weiter und so fort, bis sie schließlich
auflegen und sich ganz und gar jener anderen süßen Verlockung hingeben musste.
Wo kam das
Selbstmitleid her? In diesem übersteigerten Ausmaß? Sie führte doch in fast
jeder Hinsicht ein luxuriöses Leben. Tagtäglich hatte sie von morgens bis
abends Zeit, einen Weg zu finden, wie man vernünftig und zufriedenstellend
lebte, und dennoch schien sie, bei all ihren Wahlmöglichkeiten und all ihrer
Freiheit, immer nur noch unglücklicher zu werden. Die Autobiographin sieht sich
beinahe zu der Schlussfolgerung genötigt, dass sie sich selbst dafür
bemitleidete, so frei zu sein.
An jenem
Abend in Philadelphia kam es zu einer kurzen, jammervollen Begebenheit: Sie
ging mit der Absicht, jemanden abzuschleppen, in die Hotelbar hinunter. Dort
merkte sie rasch, dass die Welt sich in zwei Gruppen von Menschen unterteilt:
diejenigen, die wissen, wie man sich ohne Begleitung auf einem Barhocker wohl
fühlt, und diejenigen, die das nicht wissen. Außerdem sahen die Männer einfach
zu blöd aus, und zum ersten Mal seit
langem begann sie darüber nachzudenken, wie es gewesen war, betrunken zu sein
und vergewaltigt zu werden, und ging wieder auf ihr Komfortzimmer, um sich
weiteren Schüben von Selbstmitleid hinzugeben.
Am
nächsten Morgen fuhr sie in einem Zustand der Bedürftigkeit, der nichts Gutes
verhieß, mit einem Pendlerzug zu Jessicas College hinaus. Obwohl sie neunzehn
Jahre lang versucht hatte, alles für Jessica zu tun, was ihre Mutter ihr
schuldig geblieben war - sie hatte nie auch nur ein einziges Spiel von ihr
versäumt, hatte sie mit Anerkennung überschüttet, hatte sich mit den
Komplikationen ihres sozialen Lebens vertraut gemacht, hatte bei jeder kleinen
Niederlage oder Enttäuschung ihre Partei ergriffen und sich in das Drama ihrer
College-Bewerbungen vertieft -, gab es zwischen ihnen, wie schon erwähnt, einen
Mangel an wahrer Nähe. Das lag einerseits an Jessicas selbstgenügsamem Wesen
und andererseits daran, dass Patty den Bogen bei Joey weit überspannt hatte. An
Joey, und nicht an Jessica, hatte sie sich mit ihrem überfließenden Herzen
gewandt. Aber die Tür zu Joey war, aufgrund ihrer Fehler, nun geschlossen und
versperrt, und als sie den schönen Quaker-Campus betrat, war ihr das
Elternwochenende herzlich egal. Sie wollte nur ein bisschen Zeit mit ihrer
Tochter allein verbringen.
Leider
verstand Jessicas neuer Freund William keine Fingerzeige. William war ein
gutmütiger, blonder kalifornischer Fußballspieler, dessen Eltern nicht
angereist waren. Er begleitete Patty und Jessica zum Mittagessen, zu Jessicas
Kunstgeschichtsvorlesung am Nachmittag und auch in Jessicas Wohnheimzimmer, und
als Patty demonstrativ
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