Franzen, Jonathan
bin, und denken, hm, will ich das noch? Ich glaube nicht!
Wohingegen du von Walter nie genug haben wirst, weil du ihn gar nicht küssen
willst. Du kannst ihm einfach für den Rest deines Lebens nahe bleiben.»
«Das ist
D. H. Lawrence», sagte Richard unwirsch.
«Auch so
ein Autor, den ich mal lesen muss.»
«Oder auch
nicht.»
Sie rieb
sich die müden Augen und den geröteten Mund. Alles in allem war sie sehr
glücklich darüber, welche Wendung die Dinge genommen hatten.
«Du kannst
wirklich hervorragend mit Werkzeug umgehen», sagte sie mit einem weiteren
Kichern.
Richard
fing wieder an, im Zimmer auf und ab zu gehen. «Jetzt versuch mal, ernst zu
bleiben, ja? Streng dich an.»
«Diese
Zeit hier gehört uns, Richard. Mehr sage ich ja gar nicht. Wir haben ein paar
Tage, und entweder nutzen wir sie oder nicht. Sie sind sowieso bald vorbei.»
«Ich habe
einen Fehler gemacht», sagte er. «Es war einfach nicht durchdacht. Ich hätte
gestern Morgen abfahren sollen.»
«Mit
Ausnahme eines Teils von mir wäre ich froh gewesen, wenn du das getan hättest.
Zugegebenermaßen ist dieser eine Teil ein relativ wichtiger.»
«Ich freue
mich immer, wenn ich dich sehe», sagte er. «Ich bin gern in deiner Nähe. Der
Gedanke, dass Walter mit dir zusammen ist, macht mich glücklich - so jemand
bist du. Ich dachte, es wäre in Ordnung, noch ein paar Tage hierzubleiben.
Aber es war ein Fehler.»
«Willkommen
in Pattyland. Fehlerland.»
«Ich
konnte ja nicht ahnen, dass du schlafwandeln würdest.»
Sie
lachte. «Das war doch eine brillante Eingebung, oder?»
«Mann.
Reiß dich zusammen, ja? Du machst mich wütend.»
«Tja, aber
das Wunderbare ist, dass das gar keine Rolle mehr spielt. Was kann denn jetzt
schlimmstenfalls passieren? Dass du wütend auf mich bist und fährst.»
Da sah er
sie an, und er lächelte, und das Zimmer füllte sich (metaphorisch gesprochen)
mit Sonnenschein. Er war, ihrer Meinung nach, ein wirklich schöner Mann.
«Ich mag
dich», sagte er. «Ich mag dich sogar sehr. Ich habe dich immer gemocht.»
«Dito.»
«Ich
wollte, dass du ein gutes Leben hast. Verstehst du? Ich dachte, du hättest
Walter tatsächlich verdient.»
«Und
deshalb bist du an dem Abend in Chicago weggegangen und nicht wiedergekommen?»
«Es hätte
nicht geklappt mit New York. Es wäre schlecht ausgegangen.»
«Wenn du
das sagst.»
«Ja, das
sage ich.»
Patty
nickte. «Also hättest du damals gern mit mir geschlafen.»
«Ja. Sehr.
Aber nicht nur mit dir geschlafen. Mit dir geredet. Dir zugehört. Das war der
Unterschied.»
«Hm, das
ist immerhin schön zu wissen. Dann kann ich diese Sorge ja jetzt von der Liste
streichen, zwanzig Jahre später.»
Richard
zündete sich noch eine Zigarette an, und eine Weile saßen sie, Dorothys billigen alten Orientteppich zwischen sich, einfach so da. In den
Bäumen war ein Seufzen, die Stimme eines Herbstes, der im Norden Minnesotas
nie ganz fern ist.
«Dann ist
das hier wohl tendenziell eine ziemlich vertrackte Situation, oder», sagte
Patty schließlich.
«Ja.»
«Vertrackter,
als ich vielleicht dachte.»
«Ja.»
«Wäre
vermutlich besser gewesen, ich hätte nicht geschlafwandelt.»
«Ja.»
Sie
begann, Walters wegen zu weinen. In all den Jahren hatten sie so wenige Nächte
getrennt voneinander verbracht, dass sie ihn nie derart hatte vermissen und zu
schätzen wissen können, wie sie ihn jetzt vermisste und zu schätzen wusste. Es
war der Beginn einer schrecklichen Verwirrung des Herzens, einer Verwirrung,
unter der die Autobiographin noch heute leidet. Schon damals, dort am
Namenlosen See, im gleichförmigen Licht des bedeckten Himmels, erkannte sie das
Problem sehr klar. Sie hatte sich unter allen Männern auf der Welt in den
einen verliebt, der Walter genauso zugetan war, der genauso auf Walters Wohl
bedacht war wie sie; jeder andere hätte versuchen können, sie gegen ihn
aufzubringen. Und womöglich schlimmer noch war ihr Gefühl der Verantwortung für
Richard, weil sie wusste, dass er in seinem Leben sonst niemanden wie Walter
hatte und dass seine Loyalität gegenüber Walter, neben seiner Musik, zu den
wenigen Dingen gehörte, die ihn in seinen eigenen Augen als Mensch retteten.
All dies hatte sie, in ihrem Schlaf und ihrer Selbstsucht, aufs Spiel gesetzt.
Sie hatte einen Menschen ausgenutzt, der aus der Bahn geworfen und anfällig
war, sich aber trotzdem große Mühe gab, eine Art moralischer Ordnung in seinem
Leben aufrechtzuerhalten. Und so weinte sie auch Richards
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