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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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(«Nimm
Vaseline») seines Vetters Lief. Dazu war es mit vierzehn gekommen, und das
Vergnügen hatte alle ihm bis dahin bekannten Vergnügungen derart in den
Schatten gestellt und das Resultat war so umwälzend und erstaunlich gewesen,
dass er sich wie ein Science-Fiction-Held gefühlt hatte, der vierdimensional
von einem alten Planeten zu einem neuen geschleudert wurde. Und Pattys Manuskript war ähnlich bezwingend und verändernd. Die Lektüre schien,
wie jene erste Masturbation, nur einen einzigen Augenblick zu dauern. Einmal,
am Anfang, stand er auf, um seine Bürotür abzuschließen, und dann las er schon
die letzte Seite, und es war genau 10 Uhr 12, und die Sonne, die auf die
Bürofenster sengte, war eine andere Sonne als die, die er bis dahin gekannt
hatte. Sie war ein gelblicher, böser Stern in einem fremdartigen, gottverlassenen
Winkel der Galaxie, und sein Kopf war von der interstellaren Distanz, die er
überwunden hatte, nicht weniger verwandelt. Er trug das Manuskript aus dem
Büro, vorbei an Lalitha, die an ihrem Schreibtisch etwas tippte.
    «Guten
Morgen, Walter.»
    «Guten
Morgen», sagte er und erschauerte ob ihres angenehmen Morgendufts. Er ging
weiter durch die Küche und über die Hintertreppe nach oben zu dem kleinen
Zimmer, in dem die Liebe seines Lebens noch im Flanellpyjama, eingekuschelt in
ein Nest aus Bettzeug auf dem Sofa, in der Hand einen Becher Milchkaffee, auf
einem Sportsender eine Zusammenfassung des NCAA-Basketballturniers verfolgte.
Das Lächeln, das sie ihm zuwarf - ein Lächeln wie das letzte Aufblitzen der
vertrauten Sonne, die ihm abhandengekommen war -, verwandelte sich in
Entsetzen, als sie sah, was er in der Hand hielt.
    «Oh,
Scheiße», sagte sie und schaltete den Fernseher aus. «Oh, Scheiße, Walter. Oh,
oh, oh.» Heftig schüttelte sie den Kopf. «Nein», sagte sie. «Nein, nein, nein.»
    Er schloss
die Tür hinter sich und rutschte mit dem Rücken daran hinab, bis er auf dem
Boden saß. Patty holte Luft und holte nochmal Luft und immer mehr Luft und
sagte nichts. Das Licht in den Fenstern war widernatürlich. Erneut erschauerte
Walter, und seine Backenzähne klackten, als er sich zu beherrschen versuchte.
    «Ich weiß
nicht, wo du das her hast», sagte Patty. «Aber es war nicht für dich bestimmt.
Ich habe es gestern Abend Richard gegeben, damit ich ihn endlich vom Hals habe. Ich
wollte ihn aus unserem Leben raushaben! Ich habe versucht, ihn loszuwerden,
Walter. Ich weiß nicht, warum er das getan hat! Es ist so furchtbar, dass er
das getan hat!»
    Aus einer
Entfernung vieler Parsec hörte er, wie sie anfing zu weinen.
    «Ich
wollte nie, dass du das liest», sagte sie in einer wehklagenden, hohen Stimme.
«Das schwöre ich bei Gott, Walter. Das schwöre ich bei Gott. Ich habe mein
ganzes Leben versucht, dir nicht wehzutun. Du bist so gut zu mir, das verdienst
du nicht.»
    Dann
weinte sie eine längere Weile, ungefähr zehn oder hundert Minuten. Das ganze
reguläre Sonntagvormittagsprogramm war dieser Ausnahmesituation wegen
ausgesetzt, der normale Tagesablauf so gründlich umgestoßen, dass Walter nicht
einmal Sehnsucht danach empfinden konnte. Wie es der Zufall fügte, war die
Stelle auf dem Fußboden direkt vor ihm nur drei Abende zuvor Schauplatz einer
andersartigen, einer gutartigen Ausnahmesituation gewesen, einer angenehm
traumatischen Vereinigung, die rückblickend nun als Vorbote dieser bösartigen
Ausnahmesituation erschien. Am Donnerstag war er spätabends die Treppe
heraufgekommen und hatte Patty sexuell hart angegangen. Hatte mit ihrem
überraschten Einverständnis die gewalttätigen Handlungen vorgenommen, die, ohne
ihr Einverständnis, die eines Vergewaltigers gewesen wären: hatte ihr die
schwarze Arbeitshose heruntergerissen, sie auf den Boden geworfen, sich in sie
hineingerammt. Wäre ihm jemals in der Vergangenheit eingefallen, so etwas zu
tun, dann hätte er es nicht getan, weil er nicht vergessen konnte, dass sie als
Mädchen einmal vergewaltigt worden war. Doch der Tag war so lang und verwirrend
gewesen - seine Beinahe-Untreue mit Lalitha so entflammend, die Straßensperre
im Wyoming County so
aufwühlend, die Demut in Joeys Stimme am
Telefon so beispiellos und erfreulich -, dass Patty ihm, als er ihr Zimmer
betrat, plötzlich wie sein Objekt vorgekommen war. Sein starrköpfiges Objekt,
seine frustrierende Frau. Und er hatte es so sattgehabt, das ganze Argumentieren
und Verstehen, und darum hatte er sie auf den Boden geworfen und wie ein

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