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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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Matchsack voller Kleidung, fünfzig Litern Wandfarbe, seinem
alten Ein-Gang-Fahrrad, einer Secondhand-Taschenbuch-ausgabe von Thoreaus Waiden, der Super -8 -Kamera,
die er in der Mediathek seiner Highschool ausgeliehen hatte, und acht gelben
Schachteln Super -8 -Filme. Es war bei weitem das
Rebellischste, was er je getan hatte.
    Das Haus
war voller Mäuseköttel und toter Asseln, und außer einem neuen Anstrich
brauchte es ein neues Dach und neue Fliegengitter. Am ersten Tag putzte Walter
zehn Stunden lang das Haus und jätete Unkraut, dann ging er in der
immergleichen Nachmittagssonne im Wald spazieren, suchte Schönheit in der
Natur. Er hatte nur für vierundzwanzig Minuten Filmmaterial, und nachdem er
drei davon auf Streifenhörnchen verschwendet hatte, stellte er fest, dass er
sich auf etwas weniger leicht Erreichbares konzentrieren musste. Für
Eistaucher war der See zu klein, doch als er mit dem Faltboot seines Großvaters
in die selten aufgestörten Winkel fuhr, stöberte er einen reiherartigen Vogel
auf, eine Rohrdommel, die im Schilf nistete. Rohrdommeln waren perfekt - so
scheu, dass er sich den ganzen Sommer über an sie heranpirschen konnte, ohne
dabei einundzwanzig Minuten Film zu verbrauchen. Er stellte sich vor, einen experimentellen
Kurzfilm mit dem Titel «Gedommel» zu drehen.
    Jeden
Morgen stand er um fünf auf, rieb sich mit DEET ein und paddelte, die Kamera
auf dem Schoß, sehr langsam und lautlos zum Schilf. Die Rohrdommeln hielten
sich immer im Schilf versteckt, getarnt durch ihre feinen vertikalen,
beige-braunen Streifen, und spießten mit dem Schnabel kleine Tiere auf. Spürten
sie Gefahr, erstarrten sie mit gerecktem Hals und himmelwärts zeigendem
Schnabel, was sie wie trockenes Schilf aussehen ließ. Wenn Walter sich in der
Hoffnung auf mehr Gedommel und weniger Nichts im Sucher zentimeterweise
näherte, glitten sie zumeist aus seinem Blickfeld, aber manchmal schwangen sie
sich auch zum Flug auf, worauf er sich heftig zurücklehnte, um ihnen mit der
Kamera zu folgen. Obwohl sie reine Tötungsmaschinen waren, fand er sie doch
äußerst sympathisch, besonders wegen des Kontrasts zwischen ihrem tristen
Jagdgefieder und dem dramatischen kräftigen Grau und Schieferschwarz ihrer ausgestreckten
Flügel in der Luft. Am Boden, in ihrem sumpfigen Revier, waren sie schlicht und
verstohlen, am Himmel dagegen würdevoll.
    Siebzehn
Jahre auf beengtem Raum mit seiner Familie hatten ihm ein Verlangen nach
Einsamkeit eingegeben, dessen Unstillbarkeit er erst jetzt erkannte. Nichts
als Wind, Vogelgezwitscher, Insekten, springende Fische, knarrende Zweige und
Birkenblätter zu hören, die, wenn sie gegeneinandergerieten, leise scharrten:
Immer wieder, wenn er von den Außenwänden des Hauses Farbe abkratzte, hielt er
inne, um diese unstille Stille zu genießen. Die Hin- und Rückfahrt zum
Lebensmittel-Coop in Fen City auf
seinem Fahrrad dauerte anderthalb Stunden. Er machte große Töpfe Linseneintopf
und Bohnensuppe, nach Rezepten seiner Mutter, und abends spielte er mit dem
altertümlichen, aber noch immer gebrauchsfähigen, federbetriebenen
Flipperautomaten, der schon immer in dem Haus gestanden hatte. Er las im Bett
bis Mitternacht und schlief selbst dann nicht gleich ein, sondern lag einfach
da und sog die Stille auf.
    Eines
Spätnachmittags, an einem Freitag, seinem zehnten Tag am See, er kam gerade im
Kanu mit frischen, unbefriedigenden Rohrdommelaufnahmen zurück, hörte er
Automotoren, laute Musik und dann noch Motorräder, die sich auf der langen
Zufahrt näherten. Kaum hatte er das Kanu aus dem Wasser gezogen, entluden Mitch, die sexy Brenda und drei weitere Paare - drei von Mitchs Deppenkumpels
mit drei Mädchen in hautengen Schlaghosen und rückenfreien Tops - Bier,
Campingsachen und Kühlboxen auf den Rasen hinter dem Haus. Ein Diesel-Pick-up
mit Raucherhusten im Leerlauf betrieb ein Soundsystem, auf dem Aerosmith lief.
Einer der Deppenfreunde hielt einen Rottweiler mit nietenbesetztem Halsband an
einer Abschleppkettenleine.
    «He,
Naturbursche», sagte Mitch. «Hoffentlich
hast du nichts gegen ein bisschen Gesellschaft.»
    «Doch,
allerdings», sagte Walter und errötete wider Willen darüber, wie uncool er auf
die Gesellschaft wirken musste. «Sehr viel sogar. Ich bin allein hier. Ihr
könnt hier nicht sein.»
    «0 doch»,
sagte Mitch. «Außerdem bist du derjenige, der
nicht hier sein sollte. Du kannst heute noch übernachten, wenn du willst, aber
jetzt bin ich hier. Du bist auf meinem

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